„Toleranz ist eine zwiespältige, unentschlossene Haltung“, so eine provokante These von Ralf Stoecker: „Ich finde etwas nicht gut, entscheide mich aber, nichts dagegen zu tun.“ Gegen eine derart unreflektierte „Toleranz“ gegenüber „Behinderten“ wandte sich der Potsdamer Philosophieprofessor in seiner Vorlesung über „Ethik und Behinderung".
Nur 20 Hörer waren am Sonntagvormittag ins Alte Rathaus gekommen. „Relativ wenig“, wie Veranstalterin Carolin Switala vom Pressereferat der Universität Potsdam findet. Dabei war das Vortragsthema sogar auf Anregung von Studierenden entstanden, erklärte Irma Bürger, Behindertenbeauftragte der Universität. Die Vorlesungsreihe „Potsdamer Köpfe“ will Potsdamer Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, aktuelle Forschungsthemen einem breiten Publikum vorzustellen.
Die Forderung nach „Toleranz“ gegenüber Behinderten, die zunächst so sympathisch erscheint, impliziere ein falsches Verständnis von „Behinderung“, erläuterte Ralf Stoecker seine Kritik. Denn tolerieren könne man nur, was man grundsätzlich missbillige. Dem Toleranzgebot liege eine überholte „defektorientierte Definition von Behinderung“ zugrunde: Demnach sind behinderte Menschen mit einem Mangel behaftet. Aber „Menschen sind grundsätzlich Mängelwesen“, hält der Philosoph dagegen: „Die Zweiteilung der Welt in Behinderte und Nichtbehinderte ist absurd.“ Ein „Behinderter“ unterscheide sich lediglich in der Art der Mängel: Er muss mit Unzulänglichkeiten leben, die „die meisten von uns nicht haben“.
Der Philosophieprofessor zeichnete weiter das idealistische Bild eines „Service-Staates“, der zur Ermöglichung eines glatt funktionierenden Lebens für alle Bürger verpflichtet ist. Die staatlich organisierte Gesellschaft sei eines der wichtigsten Mittel, die der Mensch hat, um Mängel auszugleichen, so Stoecker. Aber staatliche Einrichtungen dürften nicht nur die Schwächen der Mehrheit ausgleichen, betonte er. Die Vorschriften zur Barrierefreiheit für Behinderte seien allgemeine Gerechtigkeitsforderung.
Eine Verpflichtung der Bürger untereinander könne daraus aber nicht abgeleitet werden. Trotzdem sei der Respekt vor der Persönlichkeit des Anderen moralisch geboten. Zum Ende reformulierte Stoecker den Toleranzbegriff: Toleranz könne auch eine Form von Gelassenheit bedeuten. Differenzen müssten nicht immer bewertet werden. „Einen aufgeschlossenen Umgang ohne Bewertung“ hält Stoecker in den meisten Fällen für „sinnvoll“.
Dass seine Forderungen noch weit von der Wirklichkeit entfernt sind, ist dem Ethiker klar, wie in der anschließenden Diskussion deutlich wurde. Ob es denn für ihn als Philosophen die moralische Verpflichtung gäbe, sozialpolitisch aktiv zu werden, fragte eine Zuhörerin und brachte den Moraltheoretiker damit kurzzeitig aus dem Konzept. Dann berief er sich auf „das Leid der Moralphilosophen“, von denen erwartet werde, dass sie gute Menschen seien. „Wir sollten sehr viel stärker versuchen, Einfluss zu nehmen“, gab er zu. Die Darstellung der Probleme würde aber immerhin auch schon Wirkung zeigen. Jana Haase
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