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Warum vier Potsdamer Studentinnen ihre Wohngemeinschaft als luxuriös erleben
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Warum vier Potsdamer Studentinnen ihre Wohngemeinschaft als luxuriös erleben Von Thomas Pösl An den Flurwänden hängen Papierblumen, bunte Reste einer Party, die hier kürzlich stattfand. Sie verdecken das Riesenposter von Radio Eins, das den Flur ansonsten dominiert. Der Flur ist leider immer etwas dunkel, weil die Lampe schon ein Jahr lang nicht funktioniert. In den vier Zimmern und der großen Küche dagegen ist es sehr hell. Hohe Decken, hellhörige Wände – 113 Quadratmeter sanierten Altbau im ersten Stock teilen sich die Studentinnen Viktoria Heese (22), Kathleen Kaminski (22), Katrin Bünger (22) und Stefanie Graf (23). Achthundert Euro kostet die mietgeminderte Wohnung in der Zeppelinstraße. Sie sind Erstmieter, die Räume wirken noch neu und unverbraucht. Man spürt die Vibrationen der vorbeifahrenden Straßenbahn. Wegen des Verkehrs kann man zwar den Balkon nicht nutzen, dafür aber im Garten des Hinterhofs gut feiern. Im zweiten und dritten Stock logieren weitere WGs, im Parterre befindet sich ein Fotoladen. Alles in allem, sagen die vier, geht es hier sehr ruhig und ungestört zu. Und anonym. Im Gegensatz dazu ist für die vier jungen Frauen persönliche Nähe geradezu Programm. Seit zwei Jahren wohnen sie zusammen, mit einer Intensität und Toleranz, wie es für diese Form des temporären Zusammenlebens nicht unbedingt typisch ist. Sie selbst sprechen mal von Luxus-WG, mal von kleiner Familie. Wintersemester 2002. Es ist schwierig zu dieser Zeit, in Potsdam eine Wohnung zu finden. Kathleen und Stefanie gründen per Internet eine WG. Am Anfang ist man sogar zu fünft, aber ohne Küche. Es gibt auch mal Schimmel an den Wänden, aber immerhin ein Bad mit Fenster. Die Mitbewohner wechseln, erst allmählich zieht zusammen, was zusammen gehört. Katrin kommt ein Jahr später, Viktoria im Jahr 2004 dazu; sie verlässt das Wohnheim und bringt als Küchenfetischistin viele entsprechende Utensilien mit. Man kennt sich vom Studium, Potsdamerin ist keine: Stefanie kommt aus Lübbenau und hat den tiefsten Schlaf. Kathleen, die jeden Tag pünktlich um 19 Uhr die heute-Sendung schaut, ist in Bad Düben geboren. Viktoria, die Wittenbergerin, hat als Einzige ein Auto und Katrin, die gerne und viel telefoniert, stammt aus Neuruppin. Die Beziehung untereinander ist eng und freundschaftlich. Vieles machen die vier Nichtraucherinnen gemeinsam: Spieleabende, Spaßsportfeste, Themenpartys, Paddeln. Sie wissen von der anderen immer so viel, um ihr ein offenes Ohr zu leihen, wenn es Probleme gibt. Auf der großen blauen Couch im Zimmer von Stefanie, die neben der Küche beliebter Treffpunkt ist, wird vieles besprochen. Sie haben gemeinsame Freunde und sogar Besuche bei den Eltern arrangiert. Selbst die Angst vor Spinnen teilen sie. Die üblichen Konflikte um Putzplan, Abwasch oder Haushaltskasse werden nach dem Motto gelöst: „Mach’s einfach, dann ist es gut.“ Ausgeprägte soziale und kommunikative Kompetenzen widerspiegeln sich auch in der Wahl ihrer Studienfächer. Viktoria ist immatrikulierte Regionalwissenschaftsstudentin, Kathleen ist angehende Gymnasiallehrerin für Politische Bildung/Deutsch und Stefanie will Primarstufenlehrerin für Deutsch/Geschichte/Sport werden. Alle drei studieren an der Universität Potsdam. Nur Katrin, die angehende Sozialpädagogin, studiert an der Fachhochschule Potsdam. Bevor sie hier ihr Zuhause fand, wohnte sie in einer Zweck-WG und wollte von dort einfach nur noch weg. Dass hier beispielsweise jemand sein Zimmer abschließt, wäre absolut undenkbar. Katrin jobbt nebenher bei einem Berliner Träger für Familienhilfe und betreut dort Jugendliche und Pflegefamilien. Sie ist mit Alkoholismus und sexuellem Missbrauch konfrontiert, Tagesroutine kennt sie im Gegensatz zu ihren Mitbewohnerinnen nicht. Ihre Arbeit erfordere es zu lernen, die kleinen Fortschritte zu sehen und die eigenen Ansichten zu relativieren, gleichermaßen sich abzugrenzen und mit Niederlagen umzugehen. Auch in einem Projekt der FH Potsdam mit Straßenkindern in Nairobi engagiert sie sich. Eine Affinität zu Afrika hat auch Viktoria. Nicht nur die Accessoires im Zimmer der Vegetarierin und Hobby-Salsa-Tänzerin deuten darauf hin. Auch sie will Praxiserfahrungen sammeln und absolviert seit Oktober ein fünfmonatiges Praktikum in Tansania. Dafür hat sie begonnen, Suaheli zu lernen. In Tansania entwickelt die Wahl-Potsdamerin Freizeitangebote für Jugend- oder Frauenprojekte auf dem Lande. Sie engagiert sich für Unicef, hat ein Patenkind in Afrika und begreift den Kontinent als Aufgabe, nicht als exotisches Reiseziel. Natürlich hofft sie, dass das Praktikum ihr berufliche Perspektiven aufzeigen wird. Aufrichtiges Interesse füreinander, Respekt und gegenseitige Anerkennung scheinen selbstverständliche und grundlegende Voraussetzungen für das Funktionieren dieser Wohngemeinschaft zu sein. Kathleen wird sie vermutlich als Erste verlassen; sie wird früher mit dem Studium fertig. Stefanie fehlt dann nicht nur die Volleyballpartnerin, sondern auch diejenige, die mit ihr zusammen im Sommerferienlager ehrenamtlich Kinder betreut. Vorstellen will sich das im Moment niemand, geschweige denn an die Bewerbergespräche um das frei werdende Zimmer denken, bei denen durchaus auch männliche Kandidaten in Frage kämen, allein schon wegen der defekten Lampe im Flur.
Thomas Pösl
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