Landeshauptstadt: „Türen zu, die Zigeuner kommen“
Anneliese Henschke kam als Flüchtling und fand eine Heimat
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Anneliese Henschke kam als Flüchtling und fand eine Heimat Nur einmal näherte sie sich ihrer Heimat. Das war gleich nach der Wende. Ohne Familie nur mit einer Reisegruppe machte sich Anneliese Henschke auf den Weg in ihre Kindheit. Sie reiste ins polnische Breslau unweit ihres Geburtsortes Wernersdorf. Die Flucht Anfang 1945 hatten ihrer „glücklichen Kindheit“ ein jähes Ende gesetzt und hatte sie herausgerissen aus einem unbeschwerten Leben auf dem Land und den Besuchen bei der großzügigen Gräfin von Moltke, „die für uns Kinder immer etwas Süßes hatte“. Vom in Europa tobenden Krieg bekam die damals Achtjährige nicht viel mit, außer dass ihr Vater nicht zu Hause war. Er war Soldat. Das Leben veränderte sich für das Mädchen als im Winter 1944/45 der Bruder zum Militär musste und nur wenige Wochen später an der Front fiel. Im Januar oder Februar 45, überlegt Anneliese Henschke, habe die Gräfin Moltke die Bewohner von Wernersdorf zur Flucht animiert, da sowjetische Truppen das Gebiet besetzten. „Über Nacht packten meine Mutter und Großmutter ein paar Habseligkeiten auf einen kleinen Kastenwagen.“ Durch den Wald führte der beschwerliche Weg. In dicke Decken eingehüllt, ging es bei Eiseskälte durch tiefen Schnee ins Glatzer Bergland. Nach wochenlangem Marsch gelangte der Treck dann in ein Dorf mit hilfsbereiten Menschen. Doch, so erinnert sich die Rentnerin, sei das Misstrauen den Ankömmlingen gegenüber zunächst groß gewesen. „Schließt die Türen, die Zigeuner kommen“, habe es geheißen. „Wir hatten kaum gegessen, die Kleidung war zerfetzt und wir waren ungewaschen und dreckig.“ Heute fühle sie sich oft ans eigene Schicksal erinnert, wenn sie von Menschen erfährt, die um Aufnahme in Deutschland bitten. „Das Misstrauen ihnen gegenüber ist mir unverständlich.“ Im Sommer 45 kehrten die drei Frauen zurück nach Wernersdorf zu den Resten ihres Hauses, einer abgebrannten Ruine. Die Familie fand Aufnahme bei ihren Nachbarn. Alle Hoffnungen auf eine Zukunft zerfielen kaum ein Jahr später. Schlesien wurde in Folge des Potsdamer Abkommens unter polnische Verwaltung gestellt. Mehr als drei Millionen Menschen wurden vertrieben. Diesmal sollte es für Anneliese Henschke und ihre Familie keine Rückkehr geben. In Güterwaggons gezwängt, ging es gen Westen. „Keiner wusste was kommen wird.“ Tagelang hausten die Vertrieben auf engstem Raum im dunklen Waggon. In stickiger Luft habe so mancher die Augen für immer geschlossen und ein anderer das Licht der Welt erblickt. „Es war schrecklich“, die Augen der heute 66-Jährigen werden trüb. Zunächst fanden die damals mittlerweile Neujährige und ihre Angehörigen Aufnahme in Pirna und ab 1947 in Potsdam, „meiner zweiten Heimat“. Hier trafen die drei Frauen Annelieses Vater bei seinen Schwestern wieder. Das Erlebte konnte Anneliese Henschke nicht vergessen. Mit Bekannten und ihrer Familie habe sie über die Zeit gesprochen. Sogar in den Schulklassen ihrer Söhne Sven und Lars berichtete sie von der Vertreibung, „obwohl das zu DDR-Zeiten offiziell nicht erwünscht war“. Auf ihrer Reise, vor zwölf Jahren, habe sie sich ein Fleckchen Boden gesucht und den Duft der Erde gerochen. Die Vergangenheit existierte und sitze tief in ihr. Gern möchte sie noch einmal nach Schlesien reisen, um nur ein einziges Mal ihren Geburtsort wiederzusehen. Ulrike Strube
Ulrike Strube
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