VERMISSTEN-FÄLLE IN BRANDENBURG: Über 90 Prozent tauchen unversehrt wieder auf Bestürzung und Trauer
Sechs Tage dauerte die Suche nach dem Potsdamer Schüler Felix von Quistorp – dann bargen ihn Taucher tot aus dem Schlossbrunnen
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Im Jahr 2005 sind nach Angaben des Landes in Brandenburg 4446 Personen als vermisst gemeldet worden. In dieser Zahl sind auch die so genannten „Dauerausreißer“ enthalten, die mehrfach im Jahr verschwinden und gewöhnlich nach ein bis zwei Tagen wieder auftauchen. In der ersten Hälfte des Jahres 2006 wurden in Brandenburg bereits 2659 Personen als vermisst gemeldet. Ende 2006 galten aktuell 229 Menschen in Brandenburg als vermisst, darunter 101 Kinder und Jugendliche. Jedes Jahr werden auch etliche Fälle aus vorigen Jahren in die Vermisstenstatistik übernommen. Ein Beispiel hierfür ist der Fall der Vera Tiemann, die seit April 1973 als vermisst gilt. Von den mehr als 4000 Personen, die in Brandenburg jährlich als vermisst gemeldet werden, tauchen über 90 Prozent wieder unversehrt auf, davon über die Hälfte binnen einer Woche ihres Verschwindens. Nach einem Monat sind in der Regel 80 Prozent aller gemeldeten Vermisstenfälle geklärt. FvH/MiM
Hohenthann/Potsdam - Alle Hoffnungen erstarben gestern gegen 9.40 Uhr: Aus einem Brunnen auf dem Areal des Schlosses seiner Großeltern im niederbayerischen Weihenstephan-Hohenthann bargen Polizeitaucher den Leichnam des 14-jährigen Potsdamers Felix von Quistorp. Bis zuletzt schloss die Polizei nicht aus, dass der Schüler des Evangelischen Gymnasiums Hermannswerder auch ausgerissen sein könnte – doch an Stelle der ohnehin von Tag zu Tag schwindenden Zuversicht trat gestern Morgen die traurige Gewissheit: Felix ist tot.
Einem vorläufigen Obduktionsergebnis zufolge ertrank der Junge am Tag seines Verschwindens am Donnerstag vergangener Woche nach einem Sturz in den Brunnen. Für ein Verschulden Dritter gebe es keinerlei Hinweise. Er habe Schürf- und Platzwunden gehabt, die mit einem Sturz „vereinbar“ seien. „Er hat mehrere Tage am Grunde des Brunnens gelegen“, sagte gestern Abend Rupert Grassmüller, Sprecher der Polizei Landshut, den PNN. Die Wasseroberfläche habe sich zehn Meter unterhalb des Brunnenrandes befunden. Das Wasser selbst sei „sehr trüb“, so Grasmüller. Die Leiche sei deshalb von den Polizisten nicht gesehen worden. Grasmüller ergänzte: „Wir haben zuerst nach einem Lebenden gesucht.“
Die Nachricht löste bei Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD), bei Mitschülern und Lehrern von Felix und auch im Polizeipräsidium eine kaum beschreibbare Fassungslosigkeit aus. „Die schreckliche Nachricht hat mich sehr getroffen“, bekannte Jakobs. „Gemeinsam mit der Familie und mit den Potsdamerinnen und Potsdamern habe ich tagelang gebangt und auf ein glückliches Ende gehofft.“ Der Oberbürgermeister sprach der Familie von Quistorp in Potsdam und in Bayern „mein von ganzem Herzen kommendes Beileid zu diesem furchtbaren Verlust“ aus. „Ich weiß mich darin eins mit den Bürgern dieser Stadt“, so das Potsdamer Stadtoberhaupt. „Wir sind sehr, sehr traurig“, sagte die Klassenlehrerin von Felix. „Ich muss das jetzt erstmal verarbeiten – wenn das überhaupt geht.“ Mit großer Erschütterung nahm eine Elternvertreterin der 8. Klasse die Nachricht auf: „Ich bin so geschockt, ich kann kaum sprechen. Ich denke nur an die Mutter und die übrige Familie von Felix.“ Gestern Nachmittag trafen sich Mitschüler, „um gemeinsam Worte der Trauer zu finden und zu beten“, sagte Frank Hohn, Geschäftsführer des Schulträgers, der Hoffbauer-Stiftung. Zum Schulanfang nach den Weihnachtsferien am kommenden Montag soll im Gottesdienst an den Jungen erinnert werden.
Der Spross des namhaften Adelsgeschlechtes hatte am Donnerstagnachmittag vergangener Woche das 150 Jahre alte Schloss seines Großvaters Erasmus von Fürstenberg verlassen – und blieb spurlos verschwunden. Polizeihauptkommissar Erwin Santner erklärte gestern den PNN, die bayerische Polizei habe alles getan, um den Schüler nach seinem Verschwinden zu finden. So sei auch die Rettungshundestaffel „Bayerwald“ mit 30 speziell ausgebildeten Suchhunden eingesetzt worden. Der Junge, der mit seiner Mutter und den Geschwistern die Weihnachtsfeiertage in Bayern verbrachte, war gegen 19 Uhr als vermisst gemeldet worden. „Wir waren davon ausgegangen, dass er das Schloss verlassen hatte“, so Santner weiter. „Er muss also später zurückgekommen sein.“ Polizeihundertschaften durchkämmten am Abend zunächst die Umgebung. Dennoch seien auch alle Räume des Schlosses untersucht worden. Ebenso sei „auf den Brunnen geschaut worden“. Allerdings sei er zum Teil durch Holzbohlen abgedeckt gewesen, sagte Santner und reagierte damit auf Fragen, warum der Brunnen erst nach sechs Tagen mit Tauchern abgesucht wurde.
Der ehemalige Potsdamer Polizeipräsident Peter Schultheiß (CDU) fragte gestern gegenüber den PNN: „Warum war der Brunnen nicht abgesperrt?“ Was einem ortskundigen 14-Jährigen passieren kann, könne noch viel eher einem Kleinkind geschehen. Die bayerische Polizei nahm er in Schutz. Es gäbe komplizierte Situationen. Er nannte ein Beispiel aus seiner aktiven Zeit, da er auf der Suche nach einem verschwundenen Kind annahm, in einer Jauchegrube könne es nicht sein, weil diese komplett abgedeckt war. Später wurde das Kind dort gefunden. Es stellte sich heraus, dass jemand aus der Verwandschaft bei der Suche noch vor Eintreffen der Polizei ein fehlendes Brett wieder über die Jauchegrube gelegt hatte. „Heute wüsste ich es auch besser“, sagte Schultheiß.
Auf Hermannswerder rangen gestern die Mitschüler von Felix mit der Todesnachricht: Sie brauchen jetzt Raum für ihre Trauer, ihre Ängste, ihre Betroffenheit, sagte Stiftungs-Geschäftsführer Hohn. Darum habe man sich gestern nach Bekanntwerden des Todes von Felix sofort mit den Lehrern darüber verständigt, einen entsprechenden Treffpunkt einzurichten. Dieser sei im Sinne des kirchlichen Trägers ein sakraler Ort, der „zur Wahrung der Intimität“ per Telefonkette von Schüler zu Schüler bekannt gegeben werde. Aus dem gleichen Grund sei der erste Schulgottesdienst im neuen Jahr am kommenden Montagmorgen ebenfalls für „nicht öffentlich“ erklärt worden. Er stehe ganz im Gedenken an Felix. Im Anschluss würden Vertreter der Hoffbauer-Stiftung, des Lehrerkollegiums und der Schüler eine gemeinsame Erklärung abgeben. Danach werde man gemäß der „unterschiedlichen Grade von Betroffenheit“ langsam in den Schulalltag übergehen.
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