WIEDEMANN bildet: Unser Leben mit den Urteilen Anderer
Mein Drucker ist kaputtgegangen, also brauchte ich einen neuen. Ich habe mich wie immer bei meinen Kaufentscheidungen in Sachen Technik zunächst im Netz kundig gemacht: Testergebnisse studiert und Meinungen zu den Geräten in entsprechenden Foren gelesen.
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Mein Drucker ist kaputtgegangen, also brauchte ich einen neuen. Ich habe mich wie immer bei meinen Kaufentscheidungen in Sachen Technik zunächst im Netz kundig gemacht: Testergebnisse studiert und Meinungen zu den Geräten in entsprechenden Foren gelesen. Ich bin dann in das Geschäft mit einer festen Kaufentscheidung gegangen, habe mich dann aber für das aktuellere – und deswegen noch nicht getestete – Modell entschieden. Wenn wir ein Urlaubshotel aussuchen, liest meine Frau vorher die im Netz vorhandenen Bewertungen und wir machen unsere Entscheidung für oder gegen ein Hotel in der Regel davon abhängig. Wohl wissend, dass solche Bewertungen durchaus manipulierbar sind, sind unsere bisherigen Erfahrungen mit solchen Bewertungen aber gut. Allerdings richten wir uns nicht immer nach solchen Testergebnissen bzw. Bewertungen Anderer. Mich interessieren sie zum Beispiel kaum bei Filmen, Büchern, Musiktiteln, Ausstellungen oder Theaterinszenierungen, und auch bei Speisen und Getränken verlasse ich mich eher auf meinen Geschmack. Das Gleiche gilt übrigens für die Ergebnisse zu politischen Parteien und zur Beliebtheit bzw. Akzeptanz ausgewählter Politikerinnen und Politiker.
Ich finde es aber schon interessant, wie durch das Internet die Meinungsmacht von spezifischen Fachleuten (Kultur- und Kunstkritiker, Politik-, Technik- oder Reisejournalisten usw.) reduziert und eine durch Selbstlegitimation im Netz getragene neue Meinungsmacht sich etablieren konnte. Das zeigt sich in Potsdam zum Beispiel aktuell bei den Themen „Flugrouten des BBI“ oder „Babelsberg 03“. Eine für mich spannende Frage ist nun, wie das Verhältnis von traditioneller und netzgesteuerter Meinungsmacht zukünftig aussehen wird. Ich möchte zumindest nicht, dass gesellschaftlich zugewiesene oder auch zugebilligte Verantwortung für Bildung, Politik oder auch Kultur a priori durch selbst legitimierte Voten im Netz infrage gestellt werden kann. Das Ergebnis einer wie auch immer zustande gekommenen Meinungsbildung im Netz wird für mich zumindest noch nicht durch eine geringe Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei Wahlen zu demokratischen Gremien legitimiert. Ich finde zurzeit Entscheidungen der gewählten politischen Parteien im Landtag und in der Stadt Potsdam auch äußerst diskussionswürdig, zum Beispiel zu den Themen Bildung, Kultur, Gesundheit und Energie – der neue Souverän Internetdemokratie überzeugt mich bisher aber auch nicht. Das hat für mich auch damit zu tun, dass ich in der Realität die Urteile Anderer in der Regel auch bestimmten Anderen zuordnen kann, ich im Netz aber häufig auf Phantasienamen treffe
Unser Autor Dieter Wiedemann ist seit zehn Jahren Präsident der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg. Er hat zahlreiche Publikationen zu Film und Fernsehen sowie zur Aufarbeitung und Wertung des DEFA-Filmerbes und des DDR- Kinderfernsehens verfasst.
Dieter Wiedemann
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