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Landeshauptstadt: Unter der Bahn

Der 40-jährige Roy Kayser fertigt seit mehr als zwölf Jahren Gäste im „Gleis 6“ im Bahnhof Babelsberg ab und hat seitdem die Entwicklung des Nachtlebens in dem Stadtteil hautnah miterlebt

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Erst ist es ein dumpfes Grollen. Schnell kommt es näher. Und wird lauter. Kurz ist Roy Kayser nicht mehr zu verstehen, als die S-Bahn rund fünf Meter über seinem Kopf hinweg donnert. Nein, sagt Kayser, an dieses Geräusch habe er sich auch nach zwölf Jahren noch nicht gewöhnen können. So lange schon betreibt der 40-Jährige unter dem Bahnhof Babelsberg seine eigene Schiene: Das „Gleis 6“ – eine Mischung aus „Stammkneipe, Studentenladen und Bahnhofslokal“, wie er beschreibt, wenn er umher blickt. Weinrote Wände, dunkelgrüne Sitze, viel Holz und obskure Bahnreliquien wie Schilder und Uhren bestimmen die Atmosphäre in seinem Domizil. Urig. Der Kiez ist hier zu Gast, vor allem in der Nacht.

Kayser stockt kurz, wenn er an die Zeit vor zwölf Jahren denkt: Damals hatte er mit seinem Bruder zusammen den Babelsberger Bahnhof entdeckt, dessen Untergeschoss gerade von der Deutschen Bahn zum Verkauf angeboten worden war. Der Ausbau ging schnell. Ähnliche Kneipen in Bahnhöfen haben die beiden Brüder danach noch am Griebnitzsee und am Charlottenhof eröffnet. „Damals war es als Gastronom einfacher, weil den Leuten das Geld doch lockerer saß“, sagt Kayser. Inzwischen sei vieles teurer geworden. Zum Beispiel auch die Mieten in Babelsberg, ausgelöst durch die umfangreichen Sanierungen in dem Stadtteil. „Auf solche Entwicklungen muss man mit entsprechenden Preisen versuchen zu reagieren“, meint Kayser. Und noch etwas machte 1994 aus seiner Sicht den Start einfacher: Gerade in Babelsberg habe damals noch viel gastronomischer Nachholbedarf bestanden. Die nächste Bahn rattert lautstark. Kayser lächelt kurz, während er an die Vergangenheit denkt.

Inzwischen ist das Angebot gewachsen. „Wenn sich andere Gastronomen hier ansiedeln, ist natürlich mehr Konkurrenz da und es wird schwieriger“, sagt Kayser. Dennoch werde durch die Vielfalt wiederum die Attraktivität des Viertels für die Potsdamer aus anderen Stadtteilen gestärkt. „Es ist eben die normale Marktwirtschaft: Mehr Kundschaft gewinnt das Lokal, dass durch besondere Aktionen, niedrige Preise oder die besondere Qualität des Essens auf sich aufmerksam macht.“

Er selbst denkt, dass er den Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Kundenfreundlichkeit gemeistert hat. Zwölf Studenten und zwei Festangestellte beschäftigt er heute. Das „Gleis 6“ ist inzwischen seine einzige Kneipe, seit er eine Familie gegründet hat. Den Rest haben er und sein Bruder verpachtet. Er hat sein Leben geändert, obwohl er trotzdem noch oft nachts arbeiten muss. „Kinder achten nicht darauf, dass du spät nach Hause kommst – sie wollen früh ihren Papa sehen.“ Wegen seiner Familie ist Kayser 1996 aus Babelsberg weggezogen, in den grünen Speckgürtel von Potsdam und Berlin. Wohin genau, möchte er nicht sagen. Aus gutem Grund, wie er meint: „Man steht eben Tag für Tag am Tresen – und ich will nicht, dass wenn es Stress gibt, jeder weiß, wo ich wohne.“

Trotz dieser vorsichtig wirkenden Art schätzt Kayser das Babelsberger Nachtleben im Vergleich zu anderen Stadtteilen als „entspannter“ ein. Durch prominente Bewohner wie Matthias Platzeck sei die Polizeipräsenz in Babelsberg etwas stärker. Dennoch: Brenzlige Situationen hat er schon erlebt. So zum Beispiel, als in diesem April unweit des „Gleis 6“ am Döner-Stand ein Armenier mit dem Imbiss-Verkäufer in Streit geriet und schließlich ein Messer zückte und den Angestellten lebensgefährlich verletzte. Wieder rattert eine Bahn über das Lokal. Kayser nutzt die halbe Minute dafür, den nächsten Satz möglichst neutral zu formulieren, ohne solche Gewaltverbrechen zu beschönigen: „So etwas passiert eben. Doch im Verhältnis der Zahl der Leute, die sich hier im Kiez bewegen ist die Zahl der Delikte zum Glück nicht sehr groß.“

Wohl auch deswegen kommen Leute aus anderen Potsdamer Stadtteilen nach seiner Beobachtung gern nach Babelsberg. Bei einer Kundenbefragung vor fünf Jahren hat er das heraus bekommen, seitdem habe sich daran nicht viel geändert. Durch Großereignisse wie die Babelsberger Livenacht, die er mit ins Leben gerufen hat, sei die Ausstrahlungskraft des Viertels weiter gewachsen. „Es herrscht hier ein gutes Miteinander unter den Gastronomen, wir helfen uns bei Problemen gegenseitig“, sagt Kayser. Etwa wenn einmal ein Kühlschrank kurzfristig ersetzt werden müsse. Oder die Ware irgendwo plötzlich einmal ausgeht. Schade sei nur, dass es im Zentrum von Babelsberg keinen echten Tanzclub gäbe, dass Waldschloss und der Lindenpark würden zu weit am Rande liegen. Doch daran werde sich wohl mangels geeigneter Flächen nichts mehr ändern. Kayser gibt sich realistisch: Zustände wie vor dem Zweiten Weltkrieg, als es in Nowawes laut der Erzählung von älteren Gästen noch mehr als hundert Kneipen gegeben habe, seien wohl nie mehr zu erreichen. „Doch damals war wohl auch nicht alles golden“, meint Kayser schmunzelnd. So habe es Kellerkneipen gegeben, die bei viel Regen voll gelaufen seien, gibt er Erzählungen wieder, die er bei seiner Arbeit am Tresen des „Gleis 6“ gehört hat.

Wieder rollt ein Zug über das Gemäuer hinweg. Laut. Immerhin, im Vergleich zu früher seien die Bahnen leiser geworden, so Kayser. Und er hat Unterschiede in den Jahreszeiten ausgemacht: „Im Winter ist es wegen der Kälte lauter.“ Doch in gewisser Weise mag er die donnernden Bahnen trotzdem. Denn schließlich mache die einzigartige Lage unter den Gleisen wesentlich den Charme des „Gleis 6“ aus: „Es ist immer noch lustig, wenn Gäste das erste Mal hier sind und deswegen zusammenzucken.“

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