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Landeshauptstadt: Unterrichtsfach Minenkunde

Der Gründer der „Kinderhilfe Afghanistan“, Reinhard Erös, referierte am Evangelischen Gymnasium Hermannswerder über seine Arbeit als Krisenhelfer

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Der Videobeamer wirft ein Bild voll herber Schönheit an die Wand: schneebedeckte Berge und tiefblaue Seen in einer kargen, erdigen Landschaft. „Es ist eines der landschaftlich schönsten Länder der Erde, voller Gegensätze und außerdem ein Eldorado für Archäologen.“ Der das sagt, muss es wissen. Denn Reinhard Erös kennt dieses Land, mit dem die meisten vor allem islamistischen Terror, Krieg und Opium verbinden, seit mehr als 25 Jahren. Afghanistan hat den Regensburger in seinen Bann gezogen. An diesem Abend erzählt er im Evangelischen Gymnasium Hermannswerder vor rund 100 Gästen von seiner Leidenschaft, aber auch von seiner Wut angesichts verheerender politischer Fehler, die Afghanistan zu einem der ärmsten und gefährlichsten Länder der Welt gemacht haben.

Die Hermannswerderaner Abende haben Tradition am Gymnasium auf der Insel. Seit dem Jahr 2000 lädt die Schule regelmäßig Zeitzeugen, Literaten, Historiker oder Wissenschaftler zu öffentlichen Vorträgen und Gesprächen. „Es ist eine ganz besondere Form des Unterrichts“, erklärt Erdmute Nieke, Religionslehrerin und Organisatorin der Veranstaltung. Reinhard Erös ist bereits der 56. Gast der Reihe. Das Publikum ist gemischt. Schüler, Eltern, Lehrer und Großeltern sitzen in den Stuhlreihen. Ihnen erzählt Erös, ehemaliger Oberstabsarzt der Bundeswehr, wie er Afghanistan zum ersten Mal 1987 besuchte – illegal, denn das Land war von den Sowjets besetzt, es herrschte Krieg. Der heute 65-Jährige fand ein Land vor, in dem es an allem fehlte, an Nahrung, Infrastruktur, Sicherheit. Die Kindersterblichkeit lag bei 46 Prozent, auf 250 000 Einwohner kam ein Arzt. Der Mediziner, der bereits seit den frühen 80er-Jahren für die UNO, das Auswärtige Amt und etliche Hilfsorganisationen in Krisenländern arbeitete, entschloss sich, zu helfen.

Im Jahr 1988 zieht Reinhard Erös mit seiner Frau und den vier Kindern ins pakistanisch-afghanische Grenzgebiet. Von Pakistan aus macht er sich regelmäßig unter Lebensgefahr auf den Weg nach Afghanistan. Die Mudschaheddin vertrauen dem Mann aus Deutschland und schützen ihn. In Felshöhlen richtet der Arzt mit einfachsten Mitteln Kliniken ein und bildet einheimische Ärzte aus. Schließlich behandelt er bis zu 100 000 Patienten im Jahr – „vom Zähneziehen bis zum Kaiserschnitt“, wie er sagt. 1998 gründet die Familie Erös die „Kinderhilfe Afghanistan“. Diese finanziert sich über private Spenden und den Erlös der Sachbücher, die Erös über Afghanistan schreibt. Die Initiative arbeitet eng mit Einheimischen zusammen und arbeitet sehr erfolgreich: Bisher errichtete sie im besonders unruhigen Osten Afghanistans 29 Schulen, zwei Berufsschulen, eine Solarwerkstatt, eine Mutter-Kind-Klinik und weitere Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Im kommenden Februar wird die erste Universität eröffnet, an der Landwirtschaft für Männer und Journalismus für Frauen gelehrt werden wird.

Die Bilanz, die Erös über die vergangenen 12 Jahre Nato-Anwesenheit in Afghanistan zieht, ist dagegen verheerend: „Die humanitäre Situation der Bevölkerung hat sich nicht verbessert“, macht er deutlich. So seien heute 61 Prozent der Säuglinge unterernährt, 90 Prozent der Bevölkerung hätten keinen Strom, 87 Prozent keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. „Das wichtigste Unterrichtsfach an unseren Schulen ist Minenkunde“, sagt Erös. Denn die Kinder müssen lernen, wie diese Waffen, die zu Tausenden verstreut sind, aussehen und was sie anrichten.

Reinhard Erös’ Schilderungen wühlen auf, manchmal verstören sie. Eine Jugendliche aus Köln fragt am Ende, wie man die Kinderhilfe konkret unterstützen könne. Die Initiative lebe von privaten Spenden, daher sei die Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiger Aspekt, betont Erös. In den vergangenen elf Jahren hat er etwa 3000 Vorträge gehalten.

Am folgenden Tag sagt Erdmute Nieke: „In allen acht Unterrichtsstunden, die ich heute hatte, war der gestrige Vortrag bei den Schülern Gesprächsthema.“ Erös Leidenschaft habe die Schüler fasziniert. Abseits von Klischees habe er ein differenziertes Bild von Afghanistan und dem Islam gegeben, das noch lange für Nachhall in der Schule sorgen werde. Heike Kampe

Heike Kampe

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