Homepage: Urknall des Alltäglichen
Die Potsdamer Literaturwissenschaft hat ein neues Forschungsfeld: Die „Nanophilologie“ auf den Spuren der Mikro-Literatur
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„Was für ein anstrengender und armseliger Wahn, dicke Bücher schreiben zu wollen.“ So der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges im Jahr 1941. Eine durchaus erklärungsbedürftiger Aussage, gerade für Literaturwissenschaftler aus Potsdam. Schließlich ist die Philosophische Fakultät der Uni ein Ort, an dem sich besonders viele Anhänger des geschriebenen Wortes treffen. Ob bei der studentischen Zeitschrift „Schreib“, auf der alljährlichen Potsdamer „Literaturnacht“ oder bei den zahlreichen wissenschaftlichen Konferenzen: Vor dicken Büchern fürchtet sich hier kaum jemand.
Anders jedoch auf einem Symposium, das jüngst an der Uni stattfand. „Nanophilologie“ hatte es der Romanist Prof. Ottmar Ette betitelt. Es galt zu klären, wie mit besonders kurzen literarischen Formen umzugehen sei. Texten, wie „Der Dinosaurier“ von Augusto Monterroso aus Guatemala. Diese „Mikro-Erzählung“ umfasst genau einen Satz: „Als er erwachte, war der Dinosaurier noch da.“
Unter den Teilnehmern der Konferenz herrschte Einigkeit darüber, dass kurze Texte zu oft unter den Tisch fallen. Lange wurden sie in der Textedition als Notizen oder unfertige Skizzen abgetan. Dabei sind sie gerade im spanischsprachigen Bereich weit verbreitet. Sie stehen, wie der argentinische Wissenschaftler und Autor David Lagmanovich deutlich machte, in einer klaren Tradition. Ob in der minimalistischen Kunst, den avantgardistischen Kompositionen von Arnold Schönberg oder dem aphoristischen Philosophieren eines Ludwig Wittgenstein: „Weniger ist mehr“, lautet das Motto. Spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts seien Reduktion und Impulsivität zu Schlüsselbegriffen in der Kunst geworden. Dichtung als Verdichtung, als Konzentration auf das Wesentliche.
Für David Lagmanovich ist dies auch eine Folge historischer Umstände. Beschleunigung und Vieldeutigkeit kennzeichnen die moderne Welt. Während die Welt kleiner wurde, wurden auch die Texte kürzer. Je mehr die Menschen sich begegneten, desto vieldeutiger wurde die Welt. So verweisen „Mikro-Erzählungen“ auch auf moderne Formen der Kommunikation. Sie passen in das Zeitalter von E-Mails und SMS. Der „Urknall des Alltäglichen“, wie es der Gießener Forscher Marcel Vejmelka nannte, hat die Literatur längst erreicht. In den „Mikro-Erzählungen“ würden kurze Alltagsmomente wie durch einen Blitz erleuchtet. Die poetische Synthese der Welt erfasst den Leser in nur wenigen Zeilen. Mit einer doppelten Wirkung, erläuterte Dr. Vejmelka: einerseits sei es an dem Leser, die fragmentarische Geschichte zu deuten. Andererseits übermittle der Text ein Gefühl, das über den Augenblick nicht hinausgehen könne. „Man fühlt eine Verbindung zwischen Menschen, jenseits eines interkulturellen Verstehens.“
Somit maßen sich die extrem kurzen Texte nicht an, den Leser wochenlang zu beschäftigen. „Wie kann jemand erwarten, dass ich zwei Monate lang mit einem Buch ins Bett gehe?“, fragte Esther Andradi aus Argentinien. Dies überfordere heute Leser und Autoren gleichermaßen. Andradi, die seit 1975 in Berlin lebt, verfasst selbst „Mikro-Erzählungen“. Es sei ein „Schreiben zwischen den Stühlen“, sagte sie. Autoren, die in Bewegung seien, hätten kaum Zeit, den großen Roman ihres Lebens zu schreiben. Das schnelle und verdichtete Schreiben entspreche eher der Lebenswirklichkeit von Autoren, die zwischen Ländern und Kontinenten pendeln müssen. So werde aus der räumlichen Bewegung auch eine erzählerische Grenzüberschreitung: Erzählwerk und Dichtung, Prosa und Poesie vermischen sich in den „Mikro-Erzählungen“.
„Es gibt eine Lust am Fragment, eine Lust des Anfangens“, beschloss Prof. Ottmar Ette die Tagung. Für die „Mikro-Erzählung“ sei eine besondere Offenheit charakteristisch. Diese unterscheide sie von abgeschlossenen Formen, wie dem klassischen Roman. Wo einst die Abgeschlossenheit eines Textes seinen Sinn eröffnete, erfreue man sich heute der Unabgeschlossenheit des ständigen Neubeginns. Wie ein Sandkorn in der Wüste, wie ein Stein an der Küste spiegelt nun ein Fragment das Ganze wider.
Für Ottmar Ette stehen die „Mikro-Erzählungen“ für das Ganze des Lebens, das sich oft zwischen verschiedenen Lebenswelten entfaltet. Die „Nanophilologie“ müsse diese Herausforderung annehmen. Die Beweglichkeit der Kleinstformen, die sich auf Buch- oder Zeitungsseiten, im Internet oder Radio wie Sandkörner verbreiten, sei oft übersehen worden. Dabei ist es gerade die Beweglichkeit kleinster Texte, die sie mit dem alltäglichen Leben verbindet. Sie können überall erscheinen und überall gelesen werden. Mark Minnes
Mark Minnes
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