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Landeshauptstadt: Urteil zu „Heider“-Angriff aufgehoben

Bundesrichter sehen falsche Beweiswürdigung bei vermeintlichem Haupttäter / Julia S. bleibt verurteilt

Stand:

Innenstadt - Der unter dem Fall „Julia S.“ bekannte Angriff von Linken auf einen damals 16-Jährigen aus der gewaltbereiten rechten Szene am Café Heider wird die Justiz noch einmal beschäftigen. In einer aktuellen Entscheidung hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil gegen den als Haupttäter verurteilten Patrick B. überraschend aufgehoben – wies allerdings auch die Beschwerden von Julia S. und dem Mitangeklagten Arend L. als unbegründet zurück. Sie bleiben damit rechtskräftig verurteilt.

Auch Patrick B. war im November 2006 zusammen mit ihnen und einem weiteren Mitangeklagten am Potsdamer Landgericht wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden. Richterin Angelika Eibisch hatte es als erwiesen angesehen, dass eine Gruppe aus der linken Szene in der Nacht vom 18. zum 19. Juni 2005 den als Rechtsextremen aus Fahrland bekannten Benjamin Oe. in der Friedrich-Ebert-Straße sahen, verfolgten und am Café Heider zusammenschlugen. Die Tatbeteiligung von Julia S. und Arend L. ergibt sich nach dem Urteil auch für die Bundesrichter in Leipzig. Die vom Landgericht verhängte Strafe von einem halben Jahr auf Bewährung gegen Julia S. und die Verwarnung gegen Arend L. bleiben damit bestehen.

Gleichzeitig hatte das Potsdamer Landgericht in dem zur Tatzeit 20 Jahre alten Patrick B. den Haupttäter erkannt: Er soll derjenige gewesen sein, der Benjamin Oe. mit einem Teleskopschlagstock am Kopf verletzte, so dass dieser eine Platzwunde erlitt, die stark blutete und genäht werden musste. Die Bundesrichter sehen Patrick B. jedoch nicht zwingend als Haupttäter: Die Beweiswürdigung des Landgerichts halte einer rechtlichen Überprüfung „nicht stand“, es läge ein „Rechtsfehler“ vor. Im Kern geht es um Folgendes: Kurz nach seiner Verhaftung wegen des schwer wiegenden Verdachts des versuchten Mordes hatte der damals 20-jährige Arend L. bestritten, an dem Angriff beteiligt gewesen zu sein – und anhand von ihm gezeigten Fotos Patrick B. als den Haupttäter belastet. Im eigentlichen Prozess am Landgericht hatte Arend L. dagegen nur noch seine Unschuld beteuert und versucht, auch Julia S. und zwei weitere Beschuldigte zu entlasten. Zu Patrick B. hatte Arend L. offenbar nichts mehr gesagt – nur dass er einen Schlag gesehen habe.

Die unterschiedlichen Aussagen von Arend L. sind der Anstoßpunkt für die Bundesrichter: Das Potsdamer Landgericht hätte darlegen müssen, warum Arend L. wann die Wahrheit sagte – „gerade in dem Punkt, als er Patrick B. belastete und sich entlastete.“ Die zuständige Richterin hätte also die „nahe liegende Möglichkeit“ erörtern müssen, ob der damals wegen versuchten Mordes in U-Haft sitzende Arend L. nicht einfach einen Dritten „fälschlich belastet hat, um die Aufhebung des gegen sich bestehenden Haftbefehls herbeizuführen.“ Im Klartext: Schwärzte Arend L. erst Patrick B. an, um selber aus der Untersuchungshaft zu kommen – und nahm das Landgericht diese Aussage als Grundlage für die Verurteilung von Patrick B.? Auf diese Frage vermissen die Bundesrichter im Urteil des Landgerichts eine klare Antwort.

Weiter bemängeln die Bundesrichter, dass Landrichterin Eibisch sich nicht genügend mit Zeugen befasst habe, die Arend L. als Täter mit dem Stock sahen – und das Arend L. als einziger der Gruppe in der Nacht eine hellblaue Jeans trug, alle anderen – auch Patrick B. – aber schwarze Hosen. Das Opfer hatte ausgesagt, den Schlagstock habe ein junger vermummter Mann mit einer Tarnhose geschwungen.

Die juristische Aufarbeitung des Angriffs am Café Heider sorgte über Monate für Proteste in der linken Szene, es gab Solidaritätsdemonstrationen. Auch die PDS und andere linke Parteien kritisierten den Umgang mit dem Fall als überzogen, weil die Potsdamer Staatsanwaltschaft und der zuständige Strafverfolger Peter Petersen zunächst wegen versuchten Mordes ermittelten. Antifaschismus werde als Mordmerkmal der niedrigen Gesinnung diffamiert, hieß es. Die nun rechtskräftig wegen des schwächeren Delikts der gefährlichen Körperverletzung verurteilte Julia S. saß für mehr als fünf Monate in Untersuchungshaft. Der Angriff auf Benjamin Oe. fiel zudem in einen emotional aufgeheizten Sommer, in dem Rechtsextreme in Potsdam mehrere Überfälle auf Linke begingen. So soll auch Benjamin Oe. vor dem Angriff auf seine Person zumindest anwesend gewesen sein, als eine Gruppe Rechter in einer Straßenbahn zwei junge Leute angriffen, weil einer der zwei Opfer ein T-Shirt mit der Aufschrift „Mein Freund ist Ausländer“ trug.

Auch der eigentliche Prozess gegen Patrick B., Julia S. und drei weitere Angeklagte gestaltete sich unübersichtlich, weil wegen des geringen Alters einer Beschuldigten 20 Prozesstage lang hinter verschlossenen Türen verhandelt wurde. Nur die Unterstützer von Julia S. informierten über das Geschehen. „Man wird sehen, ob sich alle Seiten nun erneut einen Prozess geben wollen“, kommentierte Sven Lindemann, der Anwalt von B., gegenüber den PNN das aktuelle Urteil – stimmten allen Seiten zu, also Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung, könnte ein Verfahren eingestellt werden. Zurzeit liegen die Akten bei der 1. Strafkammer des Potsdamer Landgerichts. Einen Termin für eine neue Verhandlung gibt es noch nicht.

Die heute 23 Jahre alte Julia S. indes will trotz der Verurteilung weiter Chefin des linksalternativen Vereins Chamäleon e.V. bleiben. Ebenso beharre sie auf ihrer Unschuld, sagte sie den PNN: Und ohne die „politische Aufladung“ des Falls durch die Potsdamer Staatsanwaltschaft hätte sie nie einen „Hochsicherheitstrakt von innen gesehen“. Schon die Länge der Untersuchungshaft empfinde sie angesichts der von ihr dennoch als nicht gerechtfertigt empfundenen Bewährungsstrafe als äußerst unangemessen – so sei allein schon der Vorwurf des versuchten Mordes mit der Untersuchungshaft bereits im Voraus vollstreckt worden. Für ihre finanziellen Auslagen wegen des Prozesses fanden in der linken Szene bereits mehrere Solidaritätskonzerte statt.

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