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Landeshauptstadt: Verdächtige Gäste bei Plenzdorf Ein Bibliotheksmitglied erinnert sich

An die sperrigen Holzkarteikästen kann sich Gerhard Rechlin noch gut erinnern. Die Bewegung der Finger, die flink über die Kärtchen laufen, kommt automatisch, wenn Rechlin erzählt, wie er in den 80erJahren in der Bibliothek recherchierte.

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An die sperrigen Holzkarteikästen kann sich Gerhard Rechlin noch gut erinnern. Die Bewegung der Finger, die flink über die Kärtchen laufen, kommt automatisch, wenn Rechlin erzählt, wie er in den 80erJahren in der Bibliothek recherchierte. Der heute 70-Jährige gehörte zu den ersten Nutzern der damals neuen Wissenschaftlichen Allgemeinbibliothek, die 1974 am Platz der Einheit eröffnet wurde.

„Sie war doch sehr schön“, sagt Rechlin heute, auch angesichts einer schwarz-weißen Postkarte von 1978, die eine eher dröge Stadtansicht mit Betonklotz zeigt. Der Lehrer für Chemie und Einführung in die Sozialistische Produktion, eine Art sozialistische Arbeitslehre, und seine Frau wohnten um die Ecke in der Heinrich-Rau-Allee, heute Am Kanal. Bibliotheksmitglied zu werden, „das hat sich einfach angeboten“, sagt er.

Normalerweise versorgte sich das Ehepaar in der Humboldt-Buchhandlung mit Lesestoff. „Und einen Günter Grass, den es hier nicht gab, haben wir uns eben aus Ungarn mitgebracht.“ Schließlich gab es dann ja noch die Bibliothek. Für Rechlin und viele andere war diese weit mehr als ein Lesesaal. „Das war ein zweites Zuhause“, sagt er, denn schon bald gehörten sie zu zum legendären Club 30. Der wurde 1975 gegründet, für alle, die für den Jugendklub der Bibliothek zu alt waren, die End-Zwanziger und Dreißiger, sagt Rechlin. Und es war was los: Sie organisierten Sommerfeste im Innenhof, Faschingsfeiern, gemeinsames Kochen im Veranstaltungsraum oben unterm Dach. Man ging in die Pilze – und besuchte Ateliers von Künstlern. Eine Keramikerin fertigte sogar Anstecker mit dem Klublogo. „Wir waren wie eine Familie, wir hatten alle kleine Kinder und die kamen immer mit“, sagt Rechlin.

Natürlich ging es auch um Literatur. Die Bibliotheksleitung organisierte Lesungen, Barbara Thalheim kam und Hermann Kant. Bei der Lesung von Ulrich Plenzdorf, Autor von „Die neuen Leiden des Jungen W.“ und des Drehbuchs für „Die Legende von Paul und Paula“, sei er kaum reingekommen, sagt Rechlin, und dann sei der Raum mit lauter unbekannten Leuten voll gewesen, die sonst nie da waren – sehr verdächtig.

Irgendwann nach der Wende löste sich die Klubgemeinschaft auf, weil jeder mit sich selbst beschäftigt war. Auch Rechlin hat nicht mehr jedes Jahr seinen Nutzerausweis erneuert. Dass jetzt die Bibliothek rundum erneuert wurde und sogar noch Platz für Volkshochschule und wissenschaftliche Einrichtungen war, findet er gut. Er plant, nach all den Jahren wieder Bibliotheksnutzer zu werden. „Wenn Autorenlesungen nicht zu teuer sind, gehen wir eigentlich sehr gern zu solchen Veranstaltungen“, sagt Rechlin. Steffi Pyanoe

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