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DOKUMENTIERT: „Verdrängtes Halb- und Dreiviertelwissen“

Christoph Gutsche ist Pfarrer in Sachsen-Anhalt, bis 2004 war er Mitglied des Gemeindekirchenrates in Potsdam. Die Berichte um den Verdacht gegen Uwe D.

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Christoph Gutsche ist Pfarrer in Sachsen-Anhalt, bis 2004 war er Mitglied des Gemeindekirchenrates in Potsdam. Die Berichte um den Verdacht gegen Uwe D. waren für ihn Anlass zu einem Brief an die PNN.

„Es gab eine Zeit, da war man sich sicher, dass außerhalb der Kirchenmauern über das, was sich in ihrem Inneren abspielt, nur mit Häme und Verachtung berichtet wird. Weil es die Ideologie derer da draußen so vorsah. Und alle Probleme und Streitigkeiten der Menschen in den Mauern sollte in denselben bleiben. Nur nichts nach außen dringen lassen, um keinen Anlass für Angriffe zu bieten. Das half zu überleben.

Nun ist diese Zeit vor zwanzig Jahren – Gott sei es gedankt – zu Ende gegangen. Die alten Feinde vor den Mauern gibt es nicht mehr. Aber innen drin noch das Gefühl, sich gegen alles, was von außen kommt, abschirmen und wehren zu müssen. Weil die eigene Wahrheit eine andere ist. Eine bessere, die auch nur von innen verstanden werden kann.

Deshalb nahmen die Missbrauchsfälle, die die evangelische Kirche in Potsdam vor sieben Jahren erschüttert haben und heute erschüttern, die Bahn, die sie nahmen. Es ist augenfällig: Damals in der Erlösergemeinde und auch heute ist das Offenbar-Werden viel weniger eine Überraschung als das bittere Nicht-Ausweichen- Können vor einem verdrängten Halb- oder Dreiviertelwissen. „Wir ahnten schon immer, dass da was ist...“, liest man auch heute wieder. Dass da mehr Wissen war oder hätte sein müssen bei den Verantwortlichen, tritt bitter zu Tage.

Auch bei mir. Ich war 2003 Mitglied des Gemeindekirchenrates der Erlösergemeinde. Auch ich habe mich über Jahre gegen „Gerüchte“ gegenüber einen damaligen Mitarbeiter unserer Gemeinde gewehrt und auf das alte Prinzip gesetzt: „In dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten. Gerüchte gehören nicht beachtet, dachte ich – und wenn sie zu laut werden, sind die, die sie äußern, paranoid, gegen uns, auf Krawall gebürstet. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, gibt es dann auch kein Ohr (und Auge) für Feinheiten. (...)

Ja, es gab eine Zeit, da habe auch ich alles Gerede als „Gerede“ abgetan, als Bösartigkeit der Außenwelt, die der Welt der heilen Kirchenmauern Übles wollte. Doch waren diese „Reden“ dann doch die Hilferufe von sorgenden Eltern einer mehr und mehr sensibilisierten Welt. Aber es gibt keine innerkirchlichen Parallelwelten und keine nach außen geschützten, abgetrennten Räume, in denen andere Rechts- und Umgangsformen gelten. Das zu lernen ist schmerzhaft. Aber dieser Schmerz ist nichts gegen den Schmerz, der durch Missbrauch und körperliche Gewalt an den uns Schutzbefohlenen entsteht! Und er ist auch nichts gegen den Schmerz, der entsteht, wenn Menschen sich frustriert und enttäuscht von ihrer Gemeinde und Kirche abwenden. Wo sie doch Kirche und Gemeinde als Orte von Liebe und Freiheit hätten erfahren sollen.

Denn nur darin darf und muss sich die Welt innerhalb der Kirchenmauern von der Außenwelt unterscheiden: In einem entschiedenen „Mehr“ an Liebe und Freiheit.“

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