Landeshauptstadt: Vergangenheit probieren
Der Potsdamer Verein „Haven Volck“ macht den Alltag des 17. Jahrhunderts erlebbar
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Lautes Metall-Klirren, ein schneller Hieb mit dem kurzen Dussack-Schwert – da ist der Kampf auch schon vorbei. Sebastian Ernst – komplett mit Lederstiefeln, Leinenhosen, Steppwams und Schlapphut ausgerüstet – konnte seinen ebenso gekleideten Kontrahenten durch einen geschickten Brusttreffer besiegen. Verletzungen erlitten hat aber niemand: Es war nur ein kurzer Trainingskampf im Stil des 17. Jahrhunderts, der da zwischen den Zelten, Wäscheleinen und Feuerkesseln des historischen Lagers im Volkspark Potsdam stattfand. Jetzt geht es wieder an die Arbeit, denn in einigen der Kessel köcheln nicht nur Speisen nach überlieferten Rezepten, sondern auch Hemden und Hosen, die neu gefärbt werden müssen – Alltag in längst vergangenen Zeiten.
Der 30-jährige Historiker Ernst ist Vorsitzender des seit 2011 existierenden Vereins „Haven Volck“, der sich zum Ziel gesetzt hat, die alten Zeiten historisch korrekt für Menschen von heute erfahrbar zu machen. Dazu hat sich der Potsdamer Verein auf einen kleinen Ausschnitt der Vergangenheit spezialisiert. „Wir konzentrieren uns zeitlich auf die Jahre von 1670 bis 1690 und räumlich auf Hafenstädte wie Hamburg “, so Ernst. Der Reiz dieses Zeitraums liege im Fehlen von europäischen Großereignissen wie Kriegen und Ähnlichem, die in der Geschichtsschreibung oft das Alltagsleben „überformen“ würden, so Doreen Wagner. Die 25-Jährige, die im normalen Leben in der Erwachsenenbildung tätig ist, hat sich bei „Haven Volck“ auf die Darstellung des Schneider-Berufes spezialisiert und betreibt Recherchen zu Kindheit und Schule in der damaligen Zeit. Dem Alltagsleben möchte „Haven Volck“ nachspüren – dazu seien Hafenstädte, in denen alle Schichten, Berufe und Kulturen aufeinanderprallten, besonders geeignet.
Wer „Haven Volck“ in Aktion sieht, kann hautnah erleben, wie früher tatsächlich gearbeitet, geschneidert, gekocht, getanzt, gefochten oder Bücher gebunden wurden – wer will, kann all dies auch in entsprechenden Workshops selbst erlernen. Doch der Verein belässt es nicht beim Inszenieren, sondern legt großen Wert auf das Erklären gesellschaftlicher, sozialer und ökonomischer Hintergründe. Durch die historische Auseinandersetzung soll „der Blick für heutige soziale und politische Mechanismen geschärft und verantwortungsvolles Handeln gefördert werden“, heißt es auf Handzetteln von „Haven Volck“. Ernst und seine Mitstreiter sehen sich nicht als Entertainer, sondern als Didakten und Historiker, die ihrem Publikum mit der Darstellung der Vergangenheit ermöglichen wollen, einen anderen Blick auf die eigene Zeit zu werfen.
Um ihrem Anspruch gerecht zu werden, betreiben die „Haven Volck“-Mitglieder intensive Recherche, auch in schriftlichen Primärquellen oder historischen Gemälden. Das Problem ist nur, dass das alltägliche Leben selten beschrieben wird. „Gerade die Kleidung unterer Stände ist eher wenig dokumentiert“, so Ernst, „man hat zwar eine ungefähre Ahnung vom Schnittverlauf, aber man muss es einfach selber schneidern und anprobieren.“ All dies ist mit viel Aufwand und Kosten verbunden, weshalb der Verein, der aktuell zehn feste Mitglieder hat, stets nach Verstärkung sucht.
„Haven Volck“ gestaltet häufig Veranstaltungen für Schulen oder auch die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, dazu werden Vorträge angeboten. Mittelaltermärkte und historische Feste stehen ebenso im Terminkalender des Vereins, auch wenn Sebastian Ernst mit Blick auf den historischen Anspruch meint: „Viele dieser Märkte in Brandenburg sind ziemlich schlecht; aber wir sind trotzdem da, auch um was daran zu ändern.“ „Und im Prinzip ist das ja wie Urlaub für uns“, fügt Doreen Wagner hinzu. „Es ist immer auch etwas Realitätsflucht“, stimmt Ernst zu, „und das ist auch okay, solange man es reflektiert.“ Erik Wenk
Im Internet:
www.haven-volck.de
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