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Von Guido Berg: „Verlust von Moral“

Warum Jann Jakobs einen Kasten Bier und Wieland Niekisch sein Landtagsmandat verlieren könnten

Stand:

Sonntagvormittag. Ein Grauhaariger kumpelt den Oberbürgermeister an. Und das im Wahlbüro. Den Wahlschein halten beide noch in der Hand. „Iss doch logisch, wat jewählt wird“, sagt der Typ und zieht für ein Lächeln die Mundwinkel hoch. Jann Jakobs reagiert nicht; die Morgenstunde ist nicht seine. Ein paar Korrektheiten müssen zudem sein; dazu gehört das Wahlgeheimnis und dazu gehört, dass selbst er seinen Ausweis vorzeigt. Der Wahlhelfer, der eine sehr rote Krawatte trägt, winkt ab, nicht nötig. Nachdem Jakobs seine Kreuzchen gemacht hat, wirkt er entspannt. Er will zum Turbine-Spiel; da ist es schön, die Wahlpflicht schon erfüllt zu haben. Die SPD werde sich leicht verbessern, auf 34 oder 35 Prozent im Land, denkt er. Für die Bundestagswahl hat Jakobs mit seinen Büromitarbeitern um einen Kasten Bier gewettet. „29,5 Prozent“, so sein Tipp. Und weil das Prinzip gelte, „nach der Wahl ist vor der Wahl“, ja, er werde 2010 bei der Oberbürgermeisterwahl wieder antreten – „wenn mich meine Partei wieder aufstellt“.

Wahlvorsteherin im Wahllokal Kita „Vielfalt“ in der Puschkinallee ist Ursula Löbel. Der Raum mit den Wahlkabinen ist recht klein, die Wahlbeteiligung dagegen nicht. Sie und ihr Team haben seit dem Morgen noch keine Pause gehabt. Schon fünf vor acht Uhr stand der erste Wähler vor der Tür. Er habe erklärt, er könne nicht mehr schlafen. Als Verwaltungsmitarbeiterin bekommt Ursula Löbel für ihren Sonntagseinsatz einen Tag frei und ein „Erfrischungsgeld“ von 30 Euro. Aber sie wäre auch ohne das Geld dabei. „Es macht schon Spaß“, sagt sie. Sie sehe ja von den Wählern beim Kreuzemachen nur die Beine. Es gebe interessanterweise unglaublich viele verschiedene Beinhaltungen, sagt sie, ohne dass man freilich daraus Schlüsse ziehen könnte auf das Wahlverhalten der Leute.

Ein alter Mann vor dem Wahlbüro ist gern bereit, etwas über seine Erwartungen zu sagen. Mit entwaffnender Freundlichkeit erklärt er: „Ich hoffe, dass es so bleibt, wie es ist – oder noch besser wird.“ In der Antwort steckt viel Weisheit: Der Mann hat sicher viel gesehen im Leben.

Vor der „Kulturscheune“ in Marquardt steht ein graubärtiger Mann und hat seine Stimme noch. Und das soll auch so bleiben, er ist ein „hundertprozentiger Nichtwähler“. Seine Partnerin begleitete er gern zum Wahllokal, es ist ein sonniger Herbsttag. Er jedoch habe „abgeschlossen“. Er lebe von Hartz IV und trotz Promotion habe ihm keine der 250 seit 2004 abgeschickten Bewerbungen den Erfolg bringen können. „Ich kriege nirgendwo ein Bein rein.“

„Wenn wir nicht wählen, gewinnen die anderen“, sagt eine Frau, die gerade aus der Kulturscheune kommt. Sie und ihr Freund haben Arbeit, beide sind froh darüber, denn: „Ohne Arbeit ist es nischt “

Marquardt ist der Wohnort von Wieland Niekisch. Seine Partei, die CDU, hat dem Noch-Landtagsabgeordneten keinen aussichtsreichen Listenplatz gegeben. So muss es Niekisch direkt versuchen, er wirbt auf Plakaten um die Erststimme. „Es wird schwer für ihn“, sagt die junge Frau. Ihr Mann fragt zunächst vorsichtig, „Ob er hier einen guten Ruf hat?“– um dann die Antwort darauf selbst anzudeuten: „Der kann ja kaum ,Guten Tag’ sagen.“

Ein junger Mann, der aus dem Wahllokal kommt, stößt ins selbe Horn: Niekisch sei „ein schlechtes Vorbild“, wenn er durch den Park geht, leine er seine Hunde nie an, und im Sommer beim Baden spiele er immer „den Chef vom Strand“.

„Die Merkel muss weg, der Platzeck muss weg “ So beschreibt eine Neu-Marquarterin ihre Hoffnungen zum Wahltag. „Wegen der vielen leeren Versprechungen.“ Allerdings kann sie wenig dazu tun, auch sie wählt nicht, weil ihre Meldeangelegenheiten nicht ganz auf dem neuesten Stand sind. Sie hat lediglich ihren Freund zur Kulturscheune begleitet.

Am Zaun vor dem „AWO Bürgerhaus“ in Bornim hängen noch Plakate, die auf ein Konzert des 121 Jahre alten Männerchores „Germania“ e.V. tags zuvor in der Bornimer Kirche hinweist. Ein Mann, der seinen Hund an den Zaun anleint, erklärt, er wähle „taktisch“. Ihm sei „egal, wer die Macht hat“. Ihm sei nur wichtig, dass „bestimmte Parteien“ sie nicht kriegen. Womit er zunächst „die Grünen“ meint, da es ihm mit dem Umweltschutz schon alles „viel zu weit“ geht. Wegen der vielen „Windmühlen“, die die Landschaft verschandelten. Und die Rechten, ergänzt er, die sollen auch nicht an die Macht.

Für ein junges Paar mit Kinderwagen, das gerade in der Berliner Vorstadt gewählt hat, ist die Finanzkrise das entscheidende Wahlthema. Zwar habe die Merkel „eine gute Figur gemacht“. Doch die großen Parteien vermieden bislang jede Antwort darauf, wie die Löcher gestopft werden sollen, die zur Bewältigung der Krise aufgerissen wurden. „Das dicke Ende kommt nach der Wahl“, in Form von Steuererhöhungen, vermutet der Papa, der sein Kind auf den Arm nimmt. Wenn es groß ist, „gibt es sowieso nur noch Rentner“, ergänzt er. Sorge machen sich die beiden über die hohe Staatsverschuldung und den demografischen Wandel.

Die Leiterin eines Potsdamer Kulturinstituts, die mit ihrem Mann über den Schulhof des Oberstufenzentrums zum Wahlbüro läuft, beklagt den „Verlust von Moral“ in der Politik. Schlimm seien rigorose Sparzwänge im Kulturbereich Brandenburgs. Ihr Mann bemängelt, dass die Bauern schlecht behandelt werden. Von 22 Cent für den Liter Milch könnten sie nicht existieren.

„Afghanistan“, sagt ein resoluter etwa 60-jähriger Potsdamer, der mit seiner Gattin aus dem Wahlbüro kommt. Das sei das für ihn wichtigste Thema. Wobei er jedoch „keinen Hals- über Kopf-Abzug“ der Bundeswehr möchte. Plötzlich schlägt ihm ein Mann auf die Schulter. Es ist der Modedesigner Wolfgang Joop. Beide kennen sich, schütteln sich erfreut die Hände. Der Mann meint lachend, er wisse schon, wen Joop wählen werde, doch dieser wehrt ab, nein, nicht Guido Westerwelle, zumal der in Potsdam gar nicht antritt.

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