POSITION: Verlust von Werten?
Die Weihnachtszeit mit ihrer Botschaft des Friedens darf nicht entleert werden Von Bischof Dr. Markus Dröge
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Advent ist im Dezember“ heißt ein Slogan der Evangelischen Kirche – wohlwissend, dass der Advent in manchen Jahren bereits Ende November beginnen kann. Aber gemeint ist, „alles hat seine Zeit“. Lebkuchen im August ist so nervend wie Weihnachtsbeleuchtung im Oktober. Der November ist ein stiller Monat. Die Bäume werden kahl, es wird früh dunkel. Es ist der Monat mit den Feiertagen wie Allerheiligen bzw. Allerseelen, mit dem Volkstrauertag oder dem Ewigkeitssonntag, der im Volksmund oft Totensonntag genannt wird. Wir ehren die Kriegstoten und die Opfer der Gewaltherrschaften aller Nationen und denken an verstorbene Angehörige. Erst nach dem Ewigkeitssonntag beginnt nach dem Kirchenjahr der Advent. Es ist eine Zeit der Vorfreude auf die Geburt Jesu. Das Licht der Kerzen, die Adventsbeleuchtung in den Straßen und die Weihnachtsmärkte haben eine symbolische Bedeutung. Sie sind Ausdruck der Vorfreude auf eine helle Zeit. Der Respekt gegenüber den Trauernden gebietet es, den Startknopf für das Licht und die Weihnachtsmärkte erst nach dem Ewigkeitssonntag zu drücken.
Es gibt Menschen, die meinen, auf Traditionen und Rituale verzichten zu können. Das steht jedem frei. Ich selbst bin auch kein Traditionalist. Entscheidend ist für mich: Die Tradition muss dem Leben dienen. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Gerade deswegen bin ich davon überzeugt, dass wir in unserer Gesellschaft einen Wechsel von Zeiten der Nachdenklichkeit und Zeiten der Freude brauchen, so wie auch im Verlauf jedes Tages und jeder Woche der Wechsel zwischen Ruhe und Aktivität dringend nötig ist.
Können denn wirtschaftliche Interessen Sünde sein? So wird gerade zur Advents- und Weihnachtszeit gefragt. Das Weihnachtsgeschäft wird von den Händlern geschätzt, ist es doch die Zeit mit den größten Umsätzen. Nein, wirtschaftliche Interessen sind keine Sünde. Wie bei so vielen Dingen des Lebens kommt es auch beim Wirtschaften darauf an, wie es geschieht und wozu es dient. Ein dynamisches Wirtschaftsleben, verantwortlich gestaltet, dient dem Wohlstand aller. Wenn aber kulturelle Traditionen einfach übergangen werden, verkehrt sich der finanzielle Nutzen in gesellschaftlichen Schaden. Wenn der Advent und das Weihnachtsfest nur unter ökonomischen Gesichtspunkten gesehen werden, höhlen wir ihren Sinn aus. Nur von Gewinnmaximierung zu schwärmen, das ist zu wenig.
Wer Respekt vor Traditionen erwartet, schränkt nicht die Freiheit der Menschen ein, sondern ruft dazu auf, das zu bewahren, was die Werte unserer Gesellschaft anschaulich deutlich macht. Das ist nicht rückwärtsgewandt, sondern eine Frage der Zukunft. Es gilt zu entscheiden, wie wir leben wollen. Was kann dem Leben Rhythmus geben, wenn der Unterschied zwischen Sonntag und Werktag, Feiertag und Alltag nivelliert wird, zwischen einer Zeit der Stille und des Gedenkens an Verstorbene und einer Zeit der freudigen Erwartung? Wie sollen wir zum Ausdruck bringen, dass wir die Würde aller Menschen achten, wenn wir nicht einmal mehr in der Lage sind, würdiges Gedenken zu respektieren? Der Rhythmus des Jahres gibt Menschen Orientierung und lässt auch die Bedeutung der Festzeiten intensiver erleben. Dieses Erleben wird beschädigt, wenn die Weihnachtsmärkte zur Unzeit ihre Stände öffnen.
Wir leben in einer Zeit, in der Informationen immer schneller um den Globus flitzen. Der Taktschlag am Arbeitsplatz schlägt gefühlt immer ein Stückchen schneller. Es wird immer schwieriger, die Interessen von Beruf und Familie, Karriere und Freundeskreis unter einen Hut zu bringen. Gemeinsame Zeiten für Kunst, Kultur und Religion, für Ehrenamt und Geselligkeit zu finden, wird zunehmend zu einem mühsamen Puzzlespiel. Deshalb wächst die Sehnsucht nach Entschleunigung, nach Ruhe und Sinn. Ein gutes Zeitmanagement wird für viele Menschen zur Überlebensfrage. Sie empfinden eine tiefe Sehnsucht nach erfüllter Zeit.
Die Werte unserer Kultur sind christlich geprägt. Vielen ist das nicht mehr bewusst. Es ist richtig: Religion ist etwas sehr Persönliches. Aber keineswegs eine Privatsache. Denn das, woran Menschen ihr Leben und ihre Handlungen orientieren, prägt auch das Gemeinwesen, ob sie nun an Gott glauben oder nicht.
Das zeigt sich nicht nur zur Weihnachtszeit. Christliche Werte haben sich tief in unser Rechtsempfinden eingeprägt. Ein Beispiel dafür ist etwa der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Hier ist die biblische Erzählung des „barmherzigen Samariters“ Bestandteil unserer Rechtsordnung geworden. Ein Samariter hilft einem Mann, der ausgeraubt worden war und nun verletzt im Straßengraben liegt. Zuvor waren andere Reisende an dem Hilflosen vorbeigegangen, auch fromme Leute. Dieses Bild hat zur Kultur des Helfens beigetragen. Es zeigt Nächstenliebe und Menschlichkeit.
Über die Frage, wie wir leben wollen und nach welchen Werten wir unsere Gesellschaft ausrichten, gilt es sich immer neu und aktuell zu verständigen. Gerade die Advents- und Weihnachtszeit mit ihrer zentralen Botschaft des Friedens und der Menschenwürde darf nicht entleert werden. Zusammen mit dem Erzbistum Berlin werben wir jedes Jahr bei den Einzelhandelsverbänden dafür, diese Zeit bewusst zu beginnen. Die Adventsbeleuchtung soll erst nach dem Ewigkeitssonntag eingeschaltet und auch die Weihnachtsmärkte erst danach eröffnet werden. Wir freuen uns, dass die Verbände in Berlin und Brandenburg das Bemühen um die Wahrung dieser Tradition ernst nehmen. Diese Verabredung sollte weiterhin gelten, auch in Potsdam.
Der Autor ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz
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