Studium anno 1958: Pädagogische Hochschule Potsdam: Versiebtes Deutsch und Heuwägelchen
Josef Drabek, 1939 in Böhmen geboren, studierte von 1958 bis 1962 an der Pädagogischen Hochschule Potsdam, dem Vorläufer der heutigen Potsdamer Universität. Derzeit schreibt Drabek seine Erinnerungen „Von Böhmen nach Brandenburg. Wege zwischen Weltkrieg und Wende“, deren erster und zweiter Teil vorliegt. Der dritte Teil zu Brandenburg beginnt mit der Studienzeit. Auszüge daraus erscheinen in den PNN.
Stand:
Die Theorie und Praxis der gesprochenen Sprache lag in Händen der Abteilung Sprechwissenschaft, die obligatorische Veranstaltungen für Germanistik- und Sportstudenten gestaltete sowie Stimm- und Sprechstörungen behandelte. Als Leiter fungierte Diplom-Sprechkundler und Sprecherzieher Karl-Ludwig Harth, der die Vorlesungen hielt und mit unserer Seminargruppe Übungen durchführte.
Der distinguiert wirkende Mittvierziger ähnelte weniger einem Wissenschaftler, sondern mehr einem Künstler, wozu ein langer Wollschal beitrug, den er schlaufenförmig um den Hals geschlungen hat. Mit derart geschützter Stimme behandelte er lehrend und lernend „Grundlagen des Sprechens“, die auf dem Wörterbuch von Theodor Siebs „Deutsche Bühnenaussprache“ basierten, womit dieser 1898 die Aussprache des Deutschen, auch im Bildungswesen, normieren wollte.
Bei dem „versiebten Deutsch“ geht es darum, strikt zwischen harten und weichen Konsonanten zu unterscheiden, Mitlautverbindungen sauber zu artikulieren, am Silbenanfang ein stimmhaftes S zu sprechen und die Vokale hell klingen zu lassen. Genau das waren die phonetischen Probleme fast aller Sachsen unserer Seminargruppe. Da mutierte „passiert“ zu „basiert“, statt „gesagt“ hieß es „gesacht“, bei mir klang „Sense“ so scharf, als ob das Gerät durch Getreide schneidet, und aus „Monika“ wurde „Mounigao“. Als ich meine Stimme zum ersten Mal vom Tonbandgerät hörte, war der Schock so groß, dass ich die Mitarbeit in der „Arbeitsgruppe Brecht“ nach der obligatorischen Zeit nicht mehr fortsetzte.
Umso intensiver war meine Beteiligung an der Sprecherziehung auf Grundlage des 1960 erschienenen Buches unseres Lehrers „Deutsche Sprechübungen“. Dabei ging es zunächst um die Zungenkontaktstellung, allerdings nicht als Anleitung zu intimen Küssen, sondern um zungengymnastische Übungen. Dazu musste zuerst die Zunge an die unteren Schneidezähne gelegt und folgende Vokalreihe gesprochen werden: i-e-a-o-u-ä-ö-ü-äu-ei-au. Darauf folgten mehr oder minder sinnlose Sätze mit einem Schwerpunktvokal oder alternierenden Konsonanten wie „Eine rührende Volle spielt eine führende Rolle“. Bei derlei zungenbrecherischen Übungen mahnte der Sprecherzieher innere Ruhe und ruhiges Atmen an. Um dies zu testen, ließ er hinter dem Rücken des Sprechenden ein Schlüsselbund auf die Bank knallen. Wenn der Delinquent zusammenzuckte, hieß es, dass er sich nicht ablenken lassen dürfe und langsam sagen solle: „Heuwägelchen – ich bin ganz ruhig.“
Um deutliches, lautes Sprechen zu üben, bildete unsere Gruppe auf der Hauptallee hinter dem Neuen Palais eine langgezogene Menschenkette. Zum Gaudium der Parkbesucher rief jeder dem Nächsten ein vorgegebenes Wort zu, das der Letzte so aufschrieb, wie er es verstand. Leider kam bei der „lauten Post“ fast nur Unsinn an, beispielsweise „Kartoffelsalat“ als „Pantoffelspagat“. Daher lautete das Resümee, ständig artikuliertes Sprechen zu üben – ein Ratschlag, den auch Rundfunksprecher erhielten, die der Sprechkundler schulte.
Den zweiten Teil der Sprechkunde bildete die Theorie und Praxis der Rezitation bezüglich metrisch gegliederter gebundener Rede, die auf Grundlage des 1958 erschienenen Buches von Erwin Arndt „Deutsche Verslehre“ behandelt wurde. Interessant waren Grundtypen von Gedichten, denen analog zur Musik Beethovens, Mozarts und Chopins Dichtungen von Schiller, Goethe und Heine zugeordnet wurden. Beim ersten sollte man sich ein marschmäßiges Dirigat vorstellen, beim zweiten eine girlandenhafte Verzierung und beim dritten eine nach oben weisende Spirale. Für meine Pflichtrezitation wählte ich das dem dritten Typ zuzuordnende Gedicht von Johannes R. Becher „Neckar bei Nürtingen“ mit seiner lyrischen Leichtigkeit.
Die Kür bildete das Verfassen eines eigenen Gedichtes. Im Unterschied zu anderen wählte ich keine Reime, sondern freie Rhythmen für „Heinrich von Kleists Tod“. Da dieses „Werk“ lobend erwähnt wurde, schickten es Mitbewohner ohne mein Wissen an die Zeitung „Neues Deutschland“. Nach einiger Zeit erhielt ich von der Kulturredaktion einen Brief, in dem es heißt, dass das Gedicht als Naturlyrik durchaus ansprechend sei, aber leider das Thema verfehle. Daher beschränkte sich mein weiteres „poetisches Wirken“ darauf, Schüler mit eigenen Reimereien zu verblüffen und gereimte Glückwünsche zu verfassen.
Josef Drabek
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