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Homepage: Viele Köpfe, viele Gedanken Welche Werte brauchen die Gesellschaften heute?

Er wollte es nicht zu akademisch machen, sagte Schily. Und es wurde doch eine Grundsatzrede zur politischen Staatsrechtslehre.

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Er wollte es nicht zu akademisch machen, sagte Schily. Und es wurde doch eine Grundsatzrede zur politischen Staatsrechtslehre. Welche Werte unsere Gesellschaften brauchen, war die Frage der 8. „Potsdamer Begegnungen“ zu Wochenbeginn in der Potsdamer Staatskanzlei. Das deutsch-russische Treffen, das einst vom ehemaligen Bundespräsident Herzog ins Leben gerufen worden war, steht heute noch unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Horst Köhler. Welche Werte die Deutschen oder die Russen heute konkret brauchen, konnte der ehemalige Innenminister Otto Schily (SPD) nicht sagen. Ihm ging es um Grundsätzlicheres. „Der Staat lebt von Werten, die er selbst nicht hervorbringen kann“, sagte Schily. Seine Hypothese: Der Mensch habe sich heute so weit zu einem freiheitlichen Wesen entwickelt, dass er die Werte, nach denen er zu leben hat, nicht von außen vermittelt bekommen könnte. Eine Instanz, die Werte vorgibt hält Schily für problematisch: „Der freiheitliche Mensch muss die Werte aus sich selbst heraus gewinnen.“

Konsens gebe es allenfalls beim Wert und der Würde des menschlichen Lebens. Aber auch hier hätten die verschiedenen Kulturen unterschiedliche Vorstellungen. Zentral ist für Schily die Freiheit des Menschen, wobei der Respekt des Anderen eine unverzichtbare Rolle spiele. So müsse in unserer Gesellschaft etwa auszuhalten sein, dass ein Christ den Wahrheitsanspruch des Islam anzweifle oder umgekehrt. Schily schloss seine Überbelegungen mit einem russischen Sprichwort: „So viele Köpfe, genauso viele Gedanken.“

Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) schwenkte den Blick bei der Werte-Debatte dann auf das aktuelle Problem des Rechtsextremismus. Die Erfahrung habe gezeigt, dass sich dieses Problem nicht allein mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus der Welt schaffen lasse. „Wir müssen es eng mit einer Wertediskussion verknüpfen“, sagte Platzeck. Auch reiche Bildung allein nicht aus: „Die Schulen müssen auch als Erziehungsanstalt fungieren.“

Für Russland und Deutschland empfahl der ehemalige Kulturminister der Russischen Förderation, Michail Schwydkoi, aus der langen Geschichte der Deutsch-russischen Beziehungen gemeinsame Werte zu schöpfen. Überhaupt sei die Geschichte – gerade im gegenwärtigen Umbruch der russischen Gesellschaft – der Grund, auf den man sich bei der Suche nach Werten zurück besinnen müsse. Dabei sei es unmöglich, die Geschichte der Sowjetunion einfach zu streichen.

Bis dahin war auf den „Potsdamer Begegnungen“ kein Wort zu den offensichtlichen Demokratiedefiziten des heutigen Russlands und zum Krieg in Tschetschenien gefallen. Was der orthodoxe Priester Jakow Krotow dann mit drastischen Worten nachholte. Er verglich das heutige Russland mit einem Konzentrationslager. Hier könnten sich die Menschen nicht frei entfalten, die Kapos hätten das Sagen. Den Krieg in Tschetschenien nannte er Völkermord, dem Präsidenten warf er vor, die Bevölkerung zu belügen. „Der Weg zu einer zivilen Gesellschaft ist lange noch nicht beendet.“

Michail Schwydkoi ging indes auf die jüngst von Rechten attackierte und nicht geschützte Demonstration Homosexueller in Moskau ein. Dass dieses Thema überhaupt in der Öffentlichkeit auftaucht, sei vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen. „Für Russland ist das schon eine ungewöhnliche Freiheit, aber die Gesellschaft ist noch nicht bereit.“ Wesentlich weiter sei man in Russland hingegen bei der Anerkennung der verschiedene Konfessionen. „Über Christus steht im Koran etwas anderes als in der Bibel, aber die orthodoxe Kirche toleriert das.“

Die Kirchen hatte Otto Schily eingangs zur Wertedebatte auf den Plan gerufen. Was allerdings wenig Zuspruch fand. So gab die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer von den Grünen zu bedenken, dass immer nach den Kirchen gerufen werde, wenn alle Werte verloren scheinen. Schließlich habe aber die Ursprungsidee der großen Religionen, über einen Gott für alle Frieden zu stiften, zur weltweiten Polarisierung geführt. Auch von Seiten der Kirche verwahrte man sich dagegen, Werte-Lieferant zu sein: Zuerst stehe bei den Religionen nicht die Werte- sondern die Gottesfrage an. Womit man doch wieder bei Schily war. Die Zivilgesellschaften – die einzelnen Menschen in den Gesellschaften – sind auf der Suche nach Werten gefordert.

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