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Am Ort der Vergangenheit. Peter Schulenburg und Hartmut Richter im Innenhof des ehemaligen Stasi-Untersuchungsgefängnisses in der Lindenstraße 54 mit Gedenkstättenleiterin Gabriele Schnell, Moderatorin Maria Nooke und Marion Detjen (v. l.).

© Andreas Klaer

Landeshauptstadt: Volkssport Flucht

Erinnern kann schwierig sein: Ehemalige Fluchthelfer trafen sich in der Gedenkstätte Lindenstraße

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Hartmut Richter, jetzt Mitte sechzig, hat noch am Morgen eine Besuchergruppe durch das Haus geführt, obwohl er sich nach der Wende geschworen hatte, nie wieder „irgendwas mit Politik“ anzufangen. Peter Schulenburg hat nach zehn Jahren das gemeinsame Buch „Fluchthelfer“ mit Klaus-Michael von Keussler beendet.

Es lässt sie nicht los, das Thema, das sie verbindet: Beide Männer waren jahrelang Fluchthelfer und haben dabei ihr eigenes Leben riskiert. Sie stehen beispielhaft für viele im einst geteilten Deutschland, die das taten. Nicht alle gehen damit an die Öffentlichkeit, nicht alle können damit umgehen. Zumal der Umgang mit dem Thema schwierig ist und bleibt.

Donnerstagabend waren Schulenburg und Richter Gäste der Podiumsdiskussion „Fluchthilfe im geteilten Deutschland“ in der Gedenkstätte Lindenstraße 54, dem einstigen Stasi-Untersuchungsgefängnis des Bezirks Potsdam, in dem auch etwa 200 Fluchthelfer eingesessen haben sollen.

Ein Einführungsvortrag der Historikerin Marion Detjen, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berliner Humboldt-Universität, sollte den Abend mit Fakten untermauern. Unmittelbar nach der Grenzschließung am 13. August 1961 seien noch Zehntausende geflohen, danach habe graduell eine Verschiebung vom „Volkssport Flucht“ zur politisch und teilweise auch kommerziell motivierten Fluchthilfe stattgefunden, so Detjen.

Zur ziemlich erfolgreichen und bekannten Gruppe um Wolfgang Fuchs – alles Studenten der Freien Universität Berlin – gehört Anfang der Sechziger Peter Schulenburg. „Ich war berauscht von der Großstadt Berlin, ich kam ja aus Sylt, aus Hamburg, das war hier schon viel aufregender“, erinnerte sich Schulenburg. Der Jurastudent hat einen westdeutschen Pass und kann mit diesem als Kurier über die Grenze in den Osten. Richtig aufregend wird es, als ihm ein Freund von den Fluchthilfeaktionen erzählt, er sich an diversen Tunnelprojekten beteiligt. 1965 wird er am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße verhaftet und ein Jahr später freigekauft.

Hartmut Richter hat so oft die Seiten der Mauer gewechselt, wenn er erzählt, meint man, auch er hat den Überblick verloren. Generell verschwimmen an dem Abend echte Erinnerungen und nachträglich angeeignete. Der 1966 selbst aus der DDR geflüchtete Schüler erkundet später die Transitstrecke und beginnt, Menschen im Kofferraum zu schmuggeln. „Es war wie eine Sucht.“ 33-mal wird es gelingen, ausgerechnet bei seiner Schwester fliegt er auf. Nach fünfeinhalb Jahren kaufte ihn die Bundesrepublik frei. Niemand fragte während der Veranstaltung nach dem Schicksal der Schwester.

Das Bild des coolen, unechten Wessis im Ford Escort, der bei der Passkontrolle demonstrativ Johnny Cashs „Walk the Line“ hört und Kette raucht, klingt heute nach Abenteuer, es passt dazu, wenn sich der Erzähler sein hellblaues Sportjackett zurechtrückt und ein bisschen nuschelt, so als wäre das hier die normalste Nebensache der Welt. Jedenfalls habe er kein Geld damit verdient. Dass er 500 Mark pro Kopf für Unkosten genommen hat, hat er allerdings in einem anderen Interview gesagt.

Geld genommen haben will auch nicht Peter Schulenburg.

Es ist ein heikles Thema. Wer will menschliche Notlagen ausgenutzt haben?

„20 000 mussten meine Frau und ich 1967 für unsere Flucht von Tschechien nach Österreich bezahlen“, berichtete Klaus Schulz-Ladegast. Und der Fahrer des präparierten Autos, einer von der Fremdenlegion, sei „ein ganz harter Bruder“ gewesen, der habe unterwegs noch angehalten und einen Kasten Bier gekauft. Verbittert wandte er ein, allerdings kaum Erinnerungen zu besitzen, nur Angst sei geblieben.

Neben teils bekannten Floskeln und Halbsätzen, denen man in Foren und Veranstaltungen dieser Art naturgemäß immer wieder begegnet, bot der Versuch einer historischen Einordnung neuen Spielraum. So hänge die Dynamik der Fluchthilfe unmittelbar zusammen mit der innerdeutschen politischen Lage und war stets abhängig vom westdeutschen Medienecho, Springer, Spiegel, Quick. Zusammenhänge, die unter den Eindrücken emotionaler Zeitzeugenberichte hin und wieder ins Vergessen gerieten.

„Das ist alles viel komplizierter als die Frage, ob etwas kommerziell war oder nicht“, musste Detjen am Ende einräumen.

Auch sie selbst musste sich kritische Fragen gefallen lassen. So erkundigte sich ein älterer Besucher, warum sie – ohne persönliche Berührung mit dem Thema – darüber promoviert habe. „Ich kenne die These von der unversöhnlichen Feindschaft unter Zeitzeugen und Forschern, “ erwiderte sie und erzählte von ihrem russischen Großvater, der vor dem kommunistischem Regime geflüchtet sei und ihr wissenschaftliches Interesse geweckt habe.

Das Bemühen, wissenschaftliche Betrachtung und Einordnung historischer Ereignisse mit Zeitzeugenbegegnungen zu kombinieren, sorgte am Donnerstagabend nicht zwangsweise für einen strukturierten Verlauf der Veranstaltung. Zu groß ist nach wie vor das ungestillte Mitteilungsbedürfnis namenloser Zeitzeugen, die bisher weder Plattform noch Zuhörer für ihre Lebensgeschichte gefunden haben und diese mit sich selbst ausmachen müssen.

Nachdem sich die Zeit des Abends sowie die Geduld der Zuhörer für detaillierte Schilderungen weiterer Gäste als zu knapp erwiesen, gab Detjen zu bedenken: „Viel interessanter und wichtiger ist wohl die Frage, was das mit den Menschen selbst macht.“

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