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Homepage: Vom einsamen Zappelphilipp

300 hyperaktive Kinder pro Jahr in der Lehrambulanz für Kinderpsychologen / Stipendiaten bereiten Studien zum Thema vor

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In Potsdam erhalten immer mehr Kinder die Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörung – ADHS“. Die Zahl habe zugenommen, sagt der Psychologe Dr. Lutz Marschner. Aus den aktuellen Zahlen der Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung (API) an der Universität Potsdam geht hervor, dass bereits die Hälfte der insgesamt rund 600 Fünf- bis 13-Jährigen, die jährlich in der akademischen Ambulanz in der Friedrich-Ebert-Straße betreut werden, an der psychischen Störung leidet.

Wohl auch darum werden sich ab nächstem Semester die Stipendiaten der Akademie in speziellen Forschungsprojekten mit dieser Krankheit beschäftigten. Die Wissenschaftler wollen unter anderem herausfinden, wie Kinder mit ADHS Reize wahrnehmen. Denn ihre Gehirne verarbeiten die Signale fehlerhaft. Die genauen Ursachen sind noch nicht erforscht. Allerdings gehen Wissenschaftler davon aus, dass organische aber auch soziale Probleme dafür in Frage kommen.

Hyperaktive sind einer enormen Reizflut ausgesetzt. Ihr Gehirn hält alle Sinneseindrücke für gleich wichtig: „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Klassenzimmer, hinter Ihnen schwatzen zwei Mitschüler, neben Ihnen fällt ein Stift herunter, draußen vor dem Fenster fährt eine Straßenbahn vorbei, und vorn schreibt der Lehrer einen Satz an die Tafel, die Kreide quietscht – und all diese Informationen sind für Sie gleichwertig“, erklärt Marschner, warum sich die betroffenen Kinder so schlecht auf eine Sache konzentrieren können. Sie drehen sich zudem ständig hin und her, weil sie „überall hingucken müssen – daher der Zappelphilipp“, die Hyperaktivität. Weil sie so viel verschiedene Eindrücke zu verarbeiten haben, verpassen sie meist das Wesentliche. Zum Beispiel, welche Matheaufgabe gerade gelöst werden soll und stören dadurch den Unterricht.

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollen zwischen ein und drei Prozent aller deutschen Schulkinder das ADHS-Syndrom haben. Rein rechnerisch bedeutet das, dass durchschnittlich in jedem Klassenzimmer ein betroffenes Kind sitzt. Häufig führe das ADH-Syndrom zudem zu weiteren Problemen und psychischen Störungen – bis hin zu manisch-depressiven Krankheitsbildern. „Eigentlich nehmen sich die Kinder ja morgens vor: heute störe ich nicht den Unterricht, heute baue ich aber keinen Mist“, erklärt Marschner. Doch das hielten sie höchstens bis Mittag durch. „Die Mitschüler sagen dann: Ach, Du schon wieder! und von den Lehrern werden diese Kinder ständig gemaßregelt.“ Die Folge: Sie fühlen sich allein, abgeschottet. Entweder nehmen sie sich irgendwann als Einzelkämpfer wahr und verhalten sich gegenüber anderen aggressiv oder sie fühlen sich ausgegrenzt, werden einsam und traurig, erklärt der Psychologe. Die Psychologen der Potsdamer Ambulanz versuchen dann mit Verhaltens- und Psychotherapien zu helfen. Mindestens ein Jahr dauert eine Therapie, die immer gemeinsam mit den Eltern stattfindet. „Denn von den 168 Stunden pro Woche, sehen wir das Kind ja nur eine. Die restlichen 167 Stunden ist es ja bei den Eltern oder in der Schule“, so Marschner. Oft reiche die Psychotherapie allein aber nicht aus, weil zentralnervöse Störungen die Ursache für die Hyperaktivität sind – etwa ein Ungleichgewicht der neuronalen Botenstoffe. Die Kinder werden dann mit Medikamenten, etwa Methylphenidat oder Amphetaminsulfat, behandelt. Laut Studien schlagen diese bei einem Drittel der Patienten an.

Zwar gehen Neurologen und Psychologen davon aus, dass nicht mehr Menschen als früher an ADHS leiden. Das Syndrom trete aber stärker und offensichtlicher zu Tage, so dass heute mehr Betroffene behandlungsbedürftig sind. Die Ursache könnte die Reizüberflutung durch ein Überangebot an Informationen, Kommunikation und medialen Reizen wie Fernsehen, Computer und Mobiltelefon sein. Ein weiterer Aspekt sei die immer häufiger vorzufindende Strukturlosigkeit in Familie, Schule und Gesellschaft. Dass die Zahl der betroffenen Patienten im vergangenen Jahrzehnt zugenommen hat, hänge zum Teil aber auch damit zusammen, dass die Eltern, Lehrer und Erzieher sensibler auf diese Störung reagierten als früher, erklärt Marschner. Denn das Thema „Hyperaktivität und Konzentrationsschwäche“ sei mittlerweile in den Medien sehr präsent.

Häufig würden Kindergärtnerinnen oder Lehrer die Eltern darauf ansprechen, dass ihre Kinder sich nicht konzentrieren oder im Unterricht stören und sie an die Ambulanz vermitteln. Auch die Kinderärzte und das Ernst von Bergmann Klinikum überweisen Patienten an die Ambulanz. Und manche Eltern stellten einfach fest, dass sie mit ihren Kindern nicht mehr klar kommen. Meist rufen die Eltern dann erst einmal an, so Marschner. Aber seit die Ambulanz 2006 aus der Gutenbergstraße neben die Straßenbahn-Haltestelle am Platz der Einheit gezogen ist, kämen sie öfter vorbei.

Der Umzug war nötig geworden, weil sich immer mehr Psychologie- und Pädagogikabsolventen um einen Ausbildungsplatz in der Ambulanz beworben haben. „Sie ist eine Art Lehrwerkstatt für Kinder- und Jugendpsychologen“, so Marschner. Drei Jahre dauert die Fachausbildung, 13 500 Euro Euro kostet sie. Bei den Therapien und Beratungsgesprächen seien aber immer erfahrene Kollegen dabei. Wegen der großen Nachfrage, bildet die API seit vergangenem Jahr 40 statt bisher 20 Nachwuchs-Psychologen aus. Rund ein Viertel der Auszubildenden stammt aus Potsdam, der Rest hat an anderen Universitäten und Fachhochschulen studiert.

Pro Ausbildungsplatz hätten sich für das nächste Ausbildungsjahr ab Oktober bereits vier bis fünf Diplomanden aus ganz Deutschland beworben. „Aus ihnen können wir dann die Besten aussuchen“, so Marschner. Mit den Auszubildenden betreuen so 54 Mitarbeiter jedes Jahr insgesamt rund 800 Kinder und Jugendliche aus Potsdam und Umgebung. Die Jüngsten sind drei Jahre alt, die Ältesten 21. Neben dem Aufmerksamkeitsdefizit spielen vor allem soziale Störungen und im Jugendalter selbstgefährdendes Verhalten eine große Rolle – etwa Magersucht, Suizidversuche oder Selbstverletzungen.

Einigen Patienten können auch die Experten der Ambulanz zunächst nicht helfen. Notfälle müssten in Brandenburg/Havel stationär betreut werden. Dort befindet sich die bisher einzige Kinder- und Jugend-psychiatrische Klinik des Landes.

Juliane Wedemeyer

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