
© Andreas Klaer
Vermächtnis die nächste Generation: Vom Leben ohne Smartphones
Vor 20 Jahren gründete sich die AG Zeitzeugen. Ihre Mitglieder halten Erinnerungen und Gedanken literarisch für die nächste Generation fest
Stand:
Freiheit, materieller Wohlstand, Erlebnisreichtum – das sind Dinge, um die viele DDR-Bürger ihre westdeutschen Nachbarn in Zeiten vor der Wende wohl beneideten. So zumindest beschreibt es Sabine Scheibel in ihrer Kurzgeschichte „Westpaket“. „Doch eines hatten sie ganz sicher nicht“, heißt es dort über die Westdeutschen. „Die Freude über ein Westpaket.“
Scheibel, 71, ist Leiterin der beim Seniorenbeirat der Stadt angesiedelten Arbeitsgruppe Zeitzeugen. Seit sechs Jahren ist sie Mitglied. In „Westpaket“ beschreibt sie die glückselige Erwartung, mit der sie und ihre Kommilitoninnen in jungen Jahren ein Paket von Verwandten aus der Bundesrepublik auswickelten.
Ein Vermächtnis an folgende Generationen
Die AG Zeitzeugen hat derzeit 13 aktive Mitglieder, das jüngste von ihnen ist 65, das älteste 90 Jahre alt. Sie alle eint das Ziel, Erinnerungen zu verschriftlichen, um sie der nächsten Generation zu bewahren. „Meine Geschichten haben immer eine leichte politische Note“, sagt Scheibel. Die Geschichten müssten nicht zwangsläufig von Verfolgung oder Gefängnisaufenthalten handeln. Auch kurzweilige Ferienerlebnisse oder Erinnerungen seien darunter. Etwa an ein Leben mit nur einem Telefon im gesamten Haushalt statt mehrerer Smartphones. „Uns ist aber wichtig, dass es geschichtlich stimmig ist“, sagt Scheibel, die vor der Rente als Diplom-Ingenieurin tätig war.
Die AG Zeitzeugen trifft sich einmal monatlich in Potsdam-Drewitz. Dann werden neu geschriebene Berichte, Gedichte, Erzählungen und Kurzgeschichten vorgetragen und gemeinsam redigiert. Und das Gemeinsame wird gelebt: die Lust am Schreiben und Erinnern. „Mit dem Ehepaar Klöckner hatten wir zum Teil irre Diskussionen“, erinnert sich Scheibel. Die beiden Senioren seien aus Bonn nach Potsdam gezogen und auf der Suche nach Anschluss in der AG gelandet. „Die hatten ja früher mit der DDR überhaupt nichts am Hut“, sagt Scheibel, die selbst in Potsdam aufgewachsen ist.
Ministerpräsident von Brandenburg als Initiator
Seit 1997 agiert der kleine Kreis aus ehrenamtlichen Mitgliedern. Am gestrigen Donnerstag wurde der 20. Geburtstag mit einer Feierlichkeit im Bürgerhaus Sternzeichen begangen. Die Anregung zur Gründung einer Zeitzeugengruppe kam vom ehemaligen Brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD). Bei der Landesseniorenkonferenz im Jahre 1997 hatte dieser die Idee angestoßen. Als Schirmherr der Geburtstagsfeier kam auch Potsdams Sozialbeigeordneter Mike Schubert (SPD). In der Hand hielt er die aktuellste Broschüre der AG Zeitzeugen. Besonders gefallen habe ihm eine Geschichte seiner Namensvetterin Marianne Schubert, die von einem Konzert des mittlerweile verstorbenen Pianisten Werner Scholl berichtet. „Scholl spielte auch auf meiner Hochzeit“, sagte Schubert. „Und ich denke, so geht es vielen, die Ihre Geschichten lesen: Man findet darin Dinge, mit denen man sich auch persönlich verbunden fühlt“.
Einmal jährlich erscheint besagte Broschüre. Seit der Gründung sind 18 Anthologien mit rund 800 Texten von insgesamt 42 verschiedenen Autoren erschienen. Für einen Euro können die Bände beim Seniorenbeirat erworben werden, der Erlös kommt der Stiftung Altenhilfe zugute. Bei hohen Geburtstagen werden die Hefte auch von der Stadt als besonderes Präsent überreicht. Ihre literarischen Ergüsse tragen die Mitglieder der AG Zeitzeugen zudem regelmäßig in Altenheimen oder bei besonderen Veranstaltungen vor – nicht nur in Potsdam, sondern auch im Umland und in Berlin waren sie bereits zu Gast.
Aktiv bis zum 101. Lebensjahr
Die Erzählung „Hunger“ von Zeitzeugen-Mitglied Edith Gaida zeigt, wie genau die Mitglieder ihre Erinnerungen in Worte fassen. „Wer Hunger kennt, nicht nur den Hunger von einer Mahlzeit bis zur nächsten, nicht nur tagelangen, sondern monate- und jahrelangen Hunger, der kann eventuell verstehen, dass sich fast alles im Denken und Fühlen des Hungrigen ums Essen dreht. Das habe ich als Kind in der Nachkriegszeit am eigenen Leib erfahren.“ Gaida, 1942 geborenen, ist eine ehemalige Lehrerin und Dozentin. Bei den Texten der Zeitzeugen kümmert sie sich auch darum, dass der Ausdruck stimmt.
In 20 Jahren ist bei der Gruppe eine Menge geschehen. 2011 wurde die AG Zeitzeugen mit dem Ehrenamtspreis der Stadt Potsdam ausgezeichnet, 2010 erhielt der damalige Leiter Karl Kreutz eine Ehrenurkunde vom Ministerpräsidenten. Einige Mitglieder sind bereits verstorben, Wilhelm Hamann war bis zum 101. Lebensjahr aktiv dabei, mit 106 verstarb er. Jetzt suchen die Mitglieder nach Nachwuchs – „egal, wie jung oder alt“, sagt Scheibel. Auch andere Talente werden im Übrigen gefördert: Noch bis zum 23. Juli stellen zwei Mitglieder der AG Zeitzeugen im Bürgerhaus Sternzeichen ihre Aquarelle aus.
Weitere Informationen und Leseproben: www.zeitzeugen-potsdam1997.de
Anne-Kathrin Fischer
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