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2016 begann Alexander Kovtun in Moskau sein Rabbiner-Studium. Heute lernt er am Abraham Geiger-Kolleg in Potsdam.

© Andreas Klaer

Ein dramatisches Leben: Vom Waisen zum Flüchtlings-Rabbiner

Als Kind vegetierte Alexander Kovtun zeitweise auf der Straße vor sich hin. Nun hilft er als Student des Abraham Geiger Kollegs Ukrainern bei der Flucht. 

Von Carsten Holm

Potsdam - Er war in großer Gefahr für Leib und Leben, damals, während der Kindheit in seiner südukrainischen Heimatstadt Krywyi Rih. Alexander Kovtun, der heute am Potsdamer Abraham Geiger Kolleg vor dem Abschluss seines Rabbiner-Studiums steht, wird im Alter von fünf Jahren zum Waisenkind und vegetiert zeitweise auf der Straße vor sich hin. „Mein Vater hat die Familie verlassen, als ich drei Monate alt war. Meine Mutter war Alkoholikerin und drogenabhängig, war völlig überfordert mit meiner Erziehung.“ Dann, erzählt er weiter, habe der Staat eingegriffen und ihn in einem Waisenhaus der gut 400 Kilometer von Kiew entfernten Universitätsstadt Krywyi Rih untergebracht.

Aber Kovtuns Martyrium nimmt kein Ende. Adoptiveltern nehmen ihn auf, doch es gibt erbitterten Streit. Der heute 31-jährige Kovtun sagt, er habe erfahren, dass sein leiblicher Vater Jude war, und so, als wollte er ein Stück seiner frühen Kindheit in sein neues Leben hinüberretten, identifizierte er sich Jahr für Jahr mehr mit dessen Glauben. Seine Adoptiveltern, strenge griechisch-orthodoxe Christen, lehnten das Judentum als Irrweg rundum ab: „Sie wollten mir mit aller Macht beibringen, dass auf alle Fragen nur der Gott der Christen die richtige Antwort hat.“ 

Er nimmt schließlich Reißaus und lebt als Jugendlicher in der Stadt mal hier und mal dort. Er erlebt die Alkohol- und Drogenexzesse seiner Gang mit, auch den frühen Tod, den manche sterben. Weder zu seinen leiblichen noch zu seinen Adoptiveltern hat er seither Kontakt.

In der Ukraine arbeitete er als Anwalt

Wenn Kovtun mit den PNN heute über diese Zeit spricht, wirkt er, als sei er mit den Abgründen seiner Vergangenheit im Reinen. Seine Stimme klingt fest, sein Blick hält Stand. Mit einem karierten, blaugrauen Jackett und weißem Hemd sitzt er in einem Konferenzraum des Geiger-Kollegs, er trägt einen Bart und auf dem Kopf eine leuchtend türkisfarbene Kippa, eine von bald 70, die er besitzt. „Ich glaube sogar, dass mich diese Zeit stark gemacht hat“, sagt er.

Heute steht Kovtun mitten in einer zweiten, außergewöhnlichen Karriere. Er hat in der Ukraine Jura studiert, hat mehrere Jahre in seiner Geburtsstadt als Anwalt gearbeitet und jüdischen Gemeinden in der Ukraine, in Russland und in Belarus bei Rechtsfragen zur Seite gestanden. 2016 begann er in Moskau sein Rabbiner-Studium, und es gilt als sicher, dass er am 1. Dezember, wenn er sein Studium in Potsdam beendet, zum ersten Flüchtlings-Rabbiner in Europa ernannt wird.

Homolka: „Er entspricht meinem Ideal des erfolgreichen Rabbiners“

Walter Homolka, selbst Rabbiner und Rektor des 1999 von ihm mitgegründeten liberalen jüdischen Abraham Geiger Kolleg, war gleich sehr beeindruckt von dem jungen Mann, als der sich um Aufnahme für die letzten beiden Studienjahre in Potsdam bewarb. „Alexander Kovtun ist ein singuläres Talent“, sagte er den PNN. „Er entspricht meinem Ideal des erfolgreichen Rabbiners. Er hat gelernt, sich durchzuschlagen, er hat Empathie und Organisationstalent.“

Walter Homolka, Rektor des Abraham Geiger Kollegs. 
Walter Homolka, Rektor des Abraham Geiger Kollegs. 

© Andreas Klaer

2018 kam Kovtun erstmals nach Deutschland. Wie war das für ihn, das Land der Shoa zu betreten? „Das werde ich oft gefragt“, sagt er, „aber dies ist das moderne Deutschland. Und es ist das Land, das den modernen, den liberalen, progressiven Judaismus begründet hat.“ Was heißt das? „Zum Beispiel, dass ein moderner Rabbiner der Wissenschaft und dem Pluralismus verpflichtet und die Gleichberechtigung der Geschlechter selbstverständlich ist.“

Vier Jahre hatte der Ukrainer in Moskau an einem liberalen jüdischen Institut studiert, es pflegt enge Kontakte zum Geiger-Kolleg, dem ersten Institut seiner Art in Europa nach der Shoa. 160 Frauen und Männer aus den USA, aus Lateinamerika, Frankreich, Polen und Deutschland studieren in Potsdam jüdische Theologie, Alexander Kovtun ist einer von 30 Rabbiner-Studenten.

Als der russische Angriffskrieg am 24. Februar beginnt, ist seine Freundin Miriam, die in Israel Rabbinerin wird, gerade zu Besuch. „Wir waren fassungslos“, sagt Kovtun, „wir haben doch so viele Freunde in Russland und Belarus, und unsere Religion lehrt uns, dass man die Nächsten lieben soll. Nie hätten wir damit gerechnet.“

Schnell verschafft Kovtun sich einen Überblick über die Fluchtrouten

Er ruft einen Freund in seiner Heimatstadt Krywyi Rih an, eine Garnisonsstadt, die schnell unter russisches Feuer gerät, weil dort die 17. Panzerbrigade residiert. „Keine Zeit“, sagt der Freund, „wir müssen an die Front.“ Nun kommt Kovtuns Organisationstalent zum Tragen. Er hat exzellente Kontakte in die Ukraine und zu Juden in Deutschland, schnell verschafft er sich einen Überblick über die Fluchtrouten. Vor allem Frauen mit Kindern machen sich auf den Weg aus der Ostukraine Richtung Polen und Deutschland. 

Stundenlang telefoniert er von Potsdam aus, bis er Mitfahrgelegenheiten gefunden hat. Dass er fließend Ukrainisch und Russisch, aber auch ein passables Englisch spricht, hilft ihm, als er viermal zum Hauptbahnhof in Frankfurt (Oder) fährt und aus Polen ankommenden Geflüchteten bei der Weiterreise hilft. Die meisten wollen nach Berlin, aber Berlin ist voll von Geflüchteten, und Kovtun lotst sie nach Hannover, wo er sehr gute Verbindungen zur jüdischen Gemeinde hat. 

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„Ich rief da manchmal aus Frankfurt (Oder) an und sagte: Wir kommen mit 200 Leuten und brauchen heute Abend 200 Schlafplätze. Und es klappte“, erzählt er den PNN. Er baut ein Netzwerk von ukrainischen Geflüchteten auf, Ärzte, Psychotherapeuten und Kindererzieher, die sich um die Ankommenden kümmern. 8851 Ukrainerinnen und Ukrainern hat er Plätze in Zügen von Frankfurt (Oder) nach Hannover vermittelt.

Eine glückliche Fügung ist, dass der vermögende jüdische US-Amerikaner Henry Posner, Eigner der Eisenbahngesellschaft Railroad Development Corporation aus Pittsburgh im Bundesstaat Pennsylvania, gerade in Deutschland weilt. Er hat schon den Autozug von Hamburg nach Lörrach betrieben, er kennt Homolka und bietet Hilfe für den Transport von Geflüchteten an. Kovtun übernimmt – und nur vier Tage später steigen die ersten 700 Ukrainer:innen in Frankfurt (Oder) in Posners Züge nach Hannover.

Eine Landmine reißt einen Freund in den Tod

Vor drei Wochen trifft Kovtun ein schwerer Schicksalsschlag. Ein enger Freund, den er im Waisenhaus kennengelernt hat, gerät in einem Auto in der Nähe von Charkiw auf eine Landmine und kommt dabei um. Er wollte fünf Geflüchtete in den Westen bringen. Als Kovtun den PNN davon erzählt, sagt er, er stehe „noch immer unter Schock“. Wie fühlt er sich, wenn andere Männer in seinem Alter sterben, die ihre Heimat oder ihre Mitbürger retten wollen, während er vergleichsweise sicher in Deutschland lebt? Er spüre „großen psychologischen Druck, eine große innere Spannung“, sagt er. Aber er versuche, auf seine Weise zu helfen.

Ein schwer beschädigtes Gebäude in der Nähe einer Frontlinie in Charkiw. 
Ein schwer beschädigtes Gebäude in der Nähe einer Frontlinie in Charkiw. 

© dpa

Wie selbstverständlich fühlt er sich dem Reformjudentum verpflichtet. Er wolle als Rabbiner „auch zeigen, dass nicht alle Juden Menschen sind, die einen schwarzen Hut tragen und den ganzen Tag nur beten.“ Um seine Zukunft muss sich Alexander Kovtun wohl keine Sorgen machen. Rektor Homolka hat dafür gesorgt, dass seine Stelle als Flüchtlings-Rabbiner für zwei Jahre gesichert ist. 

Sein Anfangsgehalt sollte, angelehnt an das eines Studienrats, „nicht unter brutto 45.000 Euro jährlich liegen“, sagt Homolka – nach monatlich 961 Euro, die er jetzt als Stipendiat der gemeinnützigen Asas-Stiftung bekommt. Der Zuzug aus der Ukraine wird das jüdische Leben in Deutschland sehr verändern, glaubt Uni-Rektor Homolka. Er schätzt, dass etwa 100.000 ukrainische Juden kommen und die teils überalterten Gemeinden verjüngen werden.

Auch im Privaten richtet Kovtun seine Zukunft ein. Seine Freundin Miriam kennt er schon viele Jahre, seit sieben Monaten sind sie ein Paar. Es sei „völlig klar“, sagt er im Gefühl jugendlicher Zuversicht, „dass wir eine Familie gründen werden“. Vielleicht schon Ende des Jahres wird er Potsdam, die Stadt, die er so sehr mag, verlassen – um seine erste Rabbinerstelle anzutreten.

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