Landeshauptstadt: Von Aspirin-Bäumen und Ersatzkaffee-Sträuchern
Der dritte Teil der PNN-Jahresaktion „H2O-lala – Faszination Wasser“ am Samstag: Ein Potsdamer Diplom-Geoökologe präsentierte PNN-Lesern dabei die üppige Flora und Fauna entlang der Havel – und hatte dabei so viel Intere
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Zu Hause muss der sechsjährige Marius wegen des starken Regens erst einmal „trocken gelegt“ werden, bemerkt sein Vater Torsten Walter scherzhaft. Doch die Nässe macht dem kleinen Jungen sichtlich nichts aus, seine Augen leuchten noch ein wenig: Denn Marius und seine drei Jahre ältere Schwester Leonie haben gerade zwei Stunden lang Natur erlebt. Die beiden sind die jüngsten Teilnehmer einer Naturschutztour entlang der Havel, zu der an diesem wolkenverhangenen Samstagvormittag rund 15 Teilnehmer gekommen sind. Die Gruppe hat Glück: Erst am Ende der Führung gießt es. Marius hat da aber bereits das Wichtigste für sich erledigt: Seine blaue Mütze ist voller gesammelter Blumen und Gräser. „Die lege ich mir zu Hause hin“, sagt der kleine Junge.
Es ist die dritte von insgesamt zehn H2O-lala-Aktionen, zu denen die Potsdamer Neuesten Nachrichten im diesjährigen Themenjahr „Faszination Wasser“ einladen. Angeführt wird die Tour von dem Diplom-Geoökologen Felix Schneider, der sich nebenbei für den Potsdamer Kreisverband des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) engagiert. Zwei Stunden will er – an der Dortustraße startend – am Havelufer entlang in Richtung Luftschiffhafen gehen und dabei die üppige Flora und Fauna erklären. Es ist eine Strecke, die er gern besucht, sagt Schneider schon zu Beginn: „In Potsdam lässt es sich so gut leben, weil es eben solche Ecken gibt.“
Bereits am ersten Haltepunkt kurz nach 10 Uhr hat Felix Schneider viel zu erzählen. Die Gruppe steht neben der Eisenbahnbrücke am Ende der Dortustraße, die Untere und die Obere Planitzinsel direkt im Blick. „Diese Landschaft mit den vielen Gewässern, wie wir sie hier und um Potsdam herum erleben können, ist vor allem in der so genannten Weichsel-Eiszeit entstanden, die vor mehr als zehntausend Jahren endete“, erklärt der Geoökologe. So sei die Potsdamer Havel beispielsweise eine alte Fließrinne, die durch Gletschereis und sein Tauwasser gebildet wurde. „Das ist so ähnlich, als wenn ihr ein Loch aushebt im Buddelkasten und daneben einen Hügel laufend aufschüttet und dann Wasser hineingießt – das hinterlässt auch Berge und Seen“, erklärt Schneider den beiden Kindern Marius und Leonie. Gleich darauf bestimmt er mit ihnen eine erste Pflanze: Diese hat an den Rändern gezackte Blatter, die aus einem Stiel links und rechts unterschiedlich hoch herauswachsen. „Eine Ulme“, löst Schneider das Rätsel – und zeigt nun auf die Havel.
An dieser Stelle ist der Fluss besonders ruhig. An einem Steg in der Nähe ankern Boote, schwanken träge. Das Wasser ist trüb, der Grund des Flusses nicht erkennbar. „Das ist hier normal“, sagt Schneider. Denn anders als ein Fluss in den Bergen sei die Havel eben ein Gewässer im flachen Lande: Fehlende Gefälle bedingten die niedrige Fließgeschwindigkeit, entsprechend gering sei der Wasseraustausch: „Algen können sich so hervorragend entwickeln, wir sehen sie als grüne Schlieren im Wasser.“ Im Sommer könne dies zum Problem werden: Die Wärme fördere das Wachstum der Wasserpflanzen, dazu kämen Nährstoffe von außen wie Dünger oder abgefallenes Laub: „Wenn dann zu viele Algen absterben, fehlt der Sauerstoff und die Fische im Fluss können sterben“, sagt Felix Schneider. „Umkippen“, nennt er diesen Vorgang.
Es sind auch solche Naturschutzbelange, die während der Führung eine wichtige Rolle spielen. Als die Gruppe den Fußweg auf der Unteren Planitzinsel erreicht, erklärt Felix Schneider, was beispielsweise die geplante innerstädtische Entlastungsstraße (ISES) für die Lebensqualität in Potsdam und die Natur bedeuten würde: „An solch einer sensiblen Stelle wie hier würde dann neben dem Bahndamm entlang eine vierspurige Schnellstraße verlaufen.“ Da donnert auf den Gleisen nebenan ein Zug vorbei. Der Gruppenleiter hält in seiner Erklärung inne, bis der Lärm nach mehreren Sekunden vorbei ist, da ihn sonst niemand verstehen würde. Etwa alle 15 Minuten muss Schneider solch eine Zwangspause einlegen: „Stellen sie sich vor, mit der ISES wäre solcher Lärm dauerhaft, da würden auch Schallschutzwände nicht helfen.“ Und auch eine andere Planungsidee, die Havelspange über den Templiner See hinweg, habe aus seiner Sicht vor allem negative Seiten: „Der Krach geht dann genau in Richtung Hermannswerder.“ Auch Teilnehmerin Marianne Reinholz aus Golm gibt sich kämpferisch: „Hier an der Havel kann es doch keine Straße geben.“ Die Landwirtin interessiert sich, wie sie sagt, sehr für die Natur. „Da schwimmt eine Haubentaucherfamilie“, sagt sie ohne zu zögern, während sie ihr mitgebrachtes Fernglas vor die Augen hält und ein paar Vögel beobachtet. Mit dem Lärm der ISES würden solche Tier wohl kaum an dieser Stelle zu finden sein, meint sie.
Unterdessen hat Felix Schneider eine weitere Pflanze am Wegesrand entdeckt, die er vorstellen möchte: Die Wegwarte, in der Bio-Fachwelt als Zichorie bekannt und unter dem Namen Malzkaffee auch als Kaffee-Ersatz verwendet. Ebenso sieht er am Rand des asphaltierten Weges das lange Kraut einer wilden Mohrrübe, deren weiße Blüten aussehen, als könnten sie auch gut in einen Blumenstrauß passen. „Durch ihre lange Wurzel – eben die Möhre – kann sie auch an solchen Wegesrändern wachsen“, erklärt Schneider.
Teile all solcher Pflanzen sammelt der kleine Marius. Einmal muss der Junge aber noch eine Geruchsprobe nehmen, von einer gelben Pflanze, die ein Kreuzblütler ist und als Doppelsame von Felix Schneider bestimmt wurde. „Riecht wie Vanille“, sagt Marius. Und legt eine der Blüten vorsichtig in seine Mütze. Er bekommt noch mehr zu tun: So stellt Felix Schneider noch den „Aspirin-Baum“ vor: Die Weide. In deren Rinde findet sich der Stoff Salicin, aus der sich die Salicylsäure herstellen lässt – der Grundstoff für Schmerz- und Fiebermittel á la Aspirin. „Wer hier mit wachem Blick läuft, kann wirklich viele Pflanzen entdecken“, sagt Schneider. In Potsdam gäbe es kaum eine andere Route, die in dieser Hinsicht so ergiebig sei wie der Fußweg an der Havel. Deswegen unterbricht der Naturschützer oft, redet, beantwortet Fragen. Die Zeit vergeht schnell. Als die Gruppe gegen 11.30 Uhr die Untere Planitzinsel über die Fußgängerbrücke in Richtung Wohngebiet am Kiewitt verlassen will, ist erst knapp die Hälfte der geplanten Strecke bis zum Luftschiffhafen absolviert.
Und plötzlich ist der Himmel verdunkelt, in Massen platschen dicke Tropfen auf die Havel: Alle sammeln sich unter der Brücke. Während des Wartens auf trockenes Wetter hat Schneider einige Lupen aus seinem Rucksack geholt, verteilt sie. Er selbst zeigt Marius die Graukresse in Großformat, die kleinen Haare an deren Blätterrand sind vergrößert deutlich zu erkennen. Dabei mampft der Junge mit seiner Schwester ein paar Gummibär-Schlangen. Gelöste Stimmung. „Wasser ist heute eben auch von oben erlebbar“, heißt es scherzhaft. Kurz vor 12 Uhr flaut der Regen ab.
Zwei Stunden sind um, mit Einverständnis aller Teilnehmer endet der Weg auf halber Strecke. Eine Giftpflanze können die Teilnehmer noch anschauen: Den Taumel-Kälberkopf. „Wenn Rinder diese Pflanze fressen, dann geraten sie ins Straucheln“, sagt Felix Schneider. Erweiterte Pupillen, Durchfall und Lähmungen kämen dazu – und auch Schweine hätten Probleme mit dieser Pflanze. An diesem Punkt allerdings können Marius und seine Schwester kaum noch zuhören, weil ihre Füße langsam wehtun, wie sie laut sagen. Und sie im wieder beginnenden Regen nass werden. Doch eine letzte Entdeckung macht Marius noch: Er zeigt auf ein paar Mandarin-Enten. Sie bleiben ein paar der wenigen Sehenswürdigkeiten des Vormittags, die Marius nicht in seiner blauen Schirmmütze verstaut.
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