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Einmalige Sammlung: Die Bibliothek des jüdischen Literatur- und Theaterhistorikers Ludwig Geiger wird heute im Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) am Neuen Markt eröffnet

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Es könnte auch moderne Kunst sein: Das 1835 in Leipzig gedruckte Exemplar von Heinrich Laubes „Liebesbriefen“ wurde von drei Durchschüssen zerfetzt, wodurch der erste Teil des Titels unleserlich wird. Doch hier war kein Künstler am Werk, sondern die Geschichte höchst selbst. Vermutlich haben Gewehrkugeln im Zweiten Weltkrieg den bemerkenswerten Zwiespalt von dichterischem Inhalt und zerstörtem Äußeren bei der Ausgabe verursacht.

Die genauere Betrachtung offenbart noch mehr von der Geschichte des fragilen Bandes: „Ex libris Ludovici Geiger“ ist auf dem inneren Deckblatt eingeprägt – das Buch ist Teil der Bibliothek des jüdischen Literatur- und Theaterhistorikers Ludwig Geiger, die von nun an im Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) beheimatet ist: Heute wird die Bibliothek, für die eigens ein weiterer Raum angemietet wurde, mit einer Feierstunde offiziell eingeweiht.

Wie der Zustand von Laubes Novelle andeutet, war der wertvolle Bestand, dessen ältestes Werk aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts stammt, in Folge des Zweiten Weltkrieges einige Male bedroht. 1931 hatte die Berliner Stadtbücherei die Sammlung von Geigers Familie übernommen und in dem ehemaligen Joachimsthalschen Gymnasium, dem Sitz der Stadtbücherei Berlin-Wilmersdorf, untergebracht, wo sie bereits 1942 durch einen Brand stark beschädigt wurde. 1950 stürzte noch das Dach des Gebäudes ein. Vermutlich über 1000 Bände gingen so verloren, zahlreiche wurden bis heute sichtbar beschädigt. Doch immerhin noch genau 7294 Bände konnten gerettet werden.

Die Berliner Stadtbücherei hat die Bücher nun in Form einer Dauerleihgabe dem MMZ anvertraut. In Berlin war die Bibliothek in den vergangenen Jahren sicher in einem Magazin aufbewahrt worden. In Potsdam, so auch die Hoffnung der Leihgeber, soll ihre Einmaligkeit eher zu Geltung kommen und zugleich für Wissenschaftler und Interessierte besser zugänglich sein.

Und der Zugang wird sich lohnen. Denn Bücher erzählen nicht nur ihre eigene Geschichte. Spätestens im Zusammenhang einer Bibliothek verraten sie viel über ihren ehemaligen Besitzer. Im Falle von Ludwig Geiger ist die Büchersammlung sogar nahezu der einzige Weg zur Lebensgeschichte eines bemerkenswerten Gelehrten des 19. Jahrhunderts. Denn einen Nachlass in Form von Manuskripten, Briefen und anderen Aufzeichnungen aus seiner Feder gibt es nicht. Auch deshalb hat Geiger, der nach seinem Tod 1919 zudem schnell in Vergessenheit geriet, bis heute keinen Biographen gefunden.

Geboren wurde Ludwig Geiger am 5. Juni 1848 als Sohn des Reformrabbiners Abraham Geiger in Breslau. Nach dem Studium in Philosophie und Theologie, Philologie und Geschichte in Göttingen, Bonn und Paris promovierte Ludwig Geiger, der nach dem Wunsch des Vaters eigentlich ebenfalls Rabbiner werden sollte, über den bedeutendsten Mitarbeiter Martin Luthers: Philipp Melanchthon. Nach seiner Habilitation war Geiger an der Berliner Universität als Privatdozent und außerordentlicher Professor tätig – mehr war für einen nicht zum Christentum konvertierten Juden damals nicht zu erreichen.

Der Blick in seine Bibliothek lässt noch heute mühelos Geigers lebenslangen Forschungsschwerpunkt Humanismus erkennen. An erster Stelle sticht jedoch Goethe hervor. Gleich acht verschiedene Werkausgaben sowie unzählige Bücher über Goethe sind hier zu finden. Geiger verfasste eine Biographie des Dichters und war von 1880 bis 1913 Herausgeber des Goethe-Jahrbuchs. Auch an mehreren Ausgaben von Werken und Briefen war er beteiligt. Insgesamt umfassen die Bücher von und über Goethe über 1200 Bände der Geigerschen Sammlung. Doch Geigers Interesse beschränkte sich nicht auf den Dichterfürsten. Einen ebenfalls breiten Raum der Bibliothek nimmt französische und deutsche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts ein. Bücher zur Geschichte des Judentums legen Zeugnis von einem weiteren Forschungsschwerpunkt ab, der nicht nur eine Darstellung jüdischen Lebens in Berlin, sondern auch einen frühen Versuch einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte hervorbrachte. Auch ein großes Spektrum an zeitgenössischer Literatur sowie seltene Werke zur Theatergeschichte dürften so manchen Literaturwissenschaftler verzücken.

Und dann gibt es noch das Buch mit der Nummer 7539 der von Geiger selbst durchnummerierten Bibliothek: Eine Ausgabe der Werke des italienischen Dichters Francesco Petrarca aus dem Jahr 1501 dokumentiert die intensive Beschäftigung Geigers mit der Renaissance. Dem in Venedig gedruckten ältesten Buch aus Geigers Besitz sind die Jahre jedoch inzwischen stark anzusehen. Nur noch von ein paar Fäden werden die hölzernen Buchdeckel zusammengehalten, viele Seiten des dünnen Papiers sind eingerissen oder löchrig.

Das macht deutlich: Die Bücher kosten Geld. Rund 2500 Euro wird allein die Restaurierung dieses Bandes beanspruchen. Wie Karin Bürger, Bibliothekarin am MMZ, schätzt, ist mindestens die Hälfte der Bücher schadhaft und muss von einem Konservator fachgerecht wiederhergestellt werden. Hierfür sollen nun Sponsoren gewonnen werden.

Moritz Reininghaus

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