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Von Armin M. Küstenbrück: Von der Maschine zum Menschen

Philipp Walsleben gab das Elite-Rennen in Overijse auf und fährt erstmal zur Familie nach Kleinmachnow

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Leistungssportler sind keine Maschinen. Das musste am Wochenende der 21-jährige Philipp Walsleben aus Kleinmachnow am eigenen Leib erfahren. Seit gut einem halben Jahr lebt und trainiert der Abiturient in Belgien, fernab von Familie und Freunden, weil er dort die idealen Bedingungen für seinen geliebten Cross-Sort vorfindet: die Nähe zu den wichtigsten Rennserien der Welt, zu den in Belgien hochbezahlten Spitzenstars einer faszinierenden Sportart, die in Deutschland nur ein Schattendasein fristet. Dem „Duitsen“, dem Europameister aus Deutschland, gelang der Sprung vom Nobody zum gefeierten Nachwuchsstar: Sein EM- Titel, aber viel mehr noch seine Siege im Weltcup, in der Superprestige- und der GvA-Serie, die er alle drei derzeit anführt, machten ihn im Herzland des Querfeldeins zu einem Publikumsliebling.

Und Walsleben funktionierte. Fast perfekt wickelte er bislang sein Rennprogramm fern der Heimat ab, siegte souverän bei den wenigen ausgewählten deutschen Rennen und konzentrierte sich sonst auf die Wettkämpfe in Belgien und den Niederlanden, die er fast serienweise gewann. Nur ein einziges Mal stand er bei einem U23-Rennen nicht auf dem Podium. Auch am Samstag klappte alles perfekt: in der dritten Runde des GvA-Rennens im belgischen Essen trat er an und siegte souverän mit fast einer halben Minute Vorsprung vor seinem Mannschaftskollegen vom belgischen Cross-Profi- Team Palmans-Cras Jim Aernouts und seinem Dauerrivalen Kenneth van Compernolle. „Wie schon in den letzten Rennen musste ich keine hundert Prozent geben, um zu gewinnen“, sagte der Brandenburger danach. „Das war die perfekte Vorbereitung für das Rennen in Overijse.“

Dort war Walsleben vor Jahresfrist Dritter der Elite geworden, hatte Größen wie die ehemaligen Weltmeister Sven Nys, Richard Groendendaal oder Erwin Vervecken hinter sich gelassen: „So hügelige Kurse mit den Anstiegen liegen mir“, hatte der Wahl-Belgier damals gesagt, aber auch: „So ein Rennen darf man nicht jede Woche von mir erwarten, aber das ist natürlich schon eine Hausnummer.“ Dennoch war der Druck in diesem Jahr besonders hoch. Nach den Erfolgen der vergangenen Wochen erwartete man von ihm auch am vergangenen Sonntag eine ähnliche Platzierung. Doch nach drei Runden in Overijse war Schluss für den U23-Europameister. Als Dritter war er ins Gelände gegangen, doch dann zog Fahrer um Fahrer an ihm vorbei. Irgendwann war er auf Platz 20. „Wenn bestimmte Konkurrenten an einem vorbeigehen und man sieht, dass man ihnen überhaupt nicht folgen kann, dann ist das ziemlich deprimierend“, meinte Walsleben enttäuscht. Nach drei Runden zog er die Konsequenzen: Er stieg aus, ohne Defekt, ohne Sturz. Einfach so. „Es ging einfach nicht mehr.“

In der Nacht zuvor hatte er schlecht geschlafen. Am Samstagabend hatte er erfahren, dass er Weihnachten nicht zuhause mit der Familie verbringen kann, bei den Eltern und seinem jüngeren Bruder. Wichtige Sponsoren-Termine und das wichtige Weltcup-Rennen am zweiten Weihnachtsfeiertag in Zolder hätten den Reisestress ins Unermessliche getrieben. „Da fragt man sich dann schon, welche Rolle der Sport spielen darf“, räumte ein nachdenklicher Philipp Walsleben ein, der derzeit sein gesamtes Leben seiner Leidenschaft unterordnet. „Gestern noch war ich eine Maschine, die funktioniert hat.“ Heute ist er wieder Mensch.

„Es ist schon hart, wenn man sieht, wie die belgischen Fahrer von ihren Familien umsorgt werden“, berichtet der Kleinmachnower. „Der Vater steht im Depot mit den Ersatzrädern, die Freundin wartet im Ziel und die Mutter mit warmem Kuchen im Wohnmobil.“

Walsleben ging allein nach Belgien. Er will sich nicht beklagen: Gleich zwei Familien kümmern sich dort um den 21-jährigen Sportler. An seinem Wohnort die eine, bei den Rennen die andere Familie. Jede hat den Deutschen quasi adoptiert. „Ich mag sie alle sehr – und doch ist es nicht das Gleiche, als wenn die eigene Familie auf einen wartet.“ Deswegen wird Walsleben sein persönliches Weihnachtsfest nun vorziehen und zwei Wochen Pause vom Radsport und von Belgien machen. „Am 23. Dezember stehe ich meinem Team wieder zur Verfügung. Bis dahin aber hat meine Familie Vorrang“, erklärte Walsleben voller Vorfreude auf die zwei Wochen im Kreise seiner Familie in Kleinmachnow. Danach ist er vielleicht wieder Maschine.

Armin M. Küstenbrück

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