Homepage: Von Igeln und Schildkröten lernen
Die Linguistin Prof. Heike Wiese ließ in ihrer Antrittsvorlesung an der Uni die Grammatik zu einem aufregenden Garten werden
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Wenn Heike Wiese fasziniert von Igeln und Schildkröten spricht, dann liegt das nicht etwa daran, dass sie Tierarten von handlicher Größe und scheuem Wesen liebt. Heike Wiese ist keine Zoologin, sondern Germanistin. Ihrer Antrittsvorlesung, die sie in der letzten Woche an der Universität Potsdam hielt, stellte sie die Fragen voran: „Wo werden Igel zu Schweinen und Schildkröten zu Amphibien? Und warum ist das für die Germanistik interessant?“.
Wer nun einen Ausflug in das Reich der Fabeln erwartete, sah sich im voll besetzten Hörsaal des Philosophicums am Neuen Palais auf der falschen Fährte. Denn die Antwort auf die pseudozoologische Frage ist viel raffinierter und gleichzeitig viel einfacher, als es scheint. Es ist die Sprache. Denn nur da sind Schildkröten tatsächlich Kröten. Und wer englisch spricht, macht aus einem Igel ein männliches Schwein, genauer einen Heckeneber, wie die wörtliche Übersetzung für das kleine Stacheltier lautet.
Ausgehend von der These, dass Sprache den Referenzrahmen erzeugt, in dem wir unser Weltwissen abrufbar ablegen, wirken diese Beispiele, von denen Heike Wiese noch einige mehr zu nennen wusste, ziemlich verunsichernd. Wenn schon Tiernamen offensichtlich biologischen Unsinn suggerieren, wie ist ihr dann überhaupt zu trauen? Doch Heike Wiese ist schon einen Schritt weiter, und beweist den Zuhörenden, wie verschiedene Sprachen unterschiedliche Weltwahrnehmungen hervorrufen, wie die Grammatik als Struktur unseres Sprachsystems unsere Sicht auf die Welt auf verschiedene Weise prägt.
Sie tut es auf eine Weise, die ein scheinbar so trockenes Feld wie die Grammatik zu einem aufregenden Garten werden lässt, der die seltsamsten Blüten treibt und dessen Entdeckung unbedingt lohnenswert erscheint. Nach einer Stunde zweifelt kaum mehr jemand im Saal, dass die bloße Struktur von Sprache eines der aufregendsten Forschungsgebiete überhaupt sein kann.
Für die Linguistin ist das keine Frage, Sprache sei schon deshalb spannend, weil jeder sie benutzt und ohne sie der Mensch nicht Mensch wäre, erst sie mache ihn zum Homo Sapiens. Dass Grammatik jedoch nicht ausreicht, um in einer anderen Sprache ein Glas Wein zu bestellen, gibt die Sprachwissenschaftlerin, die neben dem Englischen wenigstens die sprachlichen Grundstrukturen des Französischen, Kurdischen und Persischen beherrscht, unumwunden zu.
Doch gerade die kleinen sprachlichen Missverständnisse oder Irritationen sind es, die auf sprachliche Phänomene aufmerksam machen können. Auf die Absurdität etwa einer Schild-Kröte, auf die ihr Ehemann, ein Brite, sie stieß, der seinem Wörterbuch nicht glauben wollte. Erst nach einigem Nachdenken konnte die Sprachwissenschaftlerin kontern und brachte den Heckeneber ins Spiel.
Ihre eigene ausgeprägte Vorliebe für analytisches Denken entdeckte Heike Wiese indes schon in der Schule. Sie mochte nicht nur den Deutschunterricht, sondern auch Mathe. Mit einer Mathematiklehrerin als Mutter gab es wohl auch keine nachvollziehbaren Argumente für das Vorurteil, Logik sei nichts für Mädchen. Die gebürtige Niedersächsin blieb bei ihren Vorlieben und studierte in Göttingen Germanistik und Philosophie. Die Verbindung von beidem fand sie in der Linguistik, die ihr Spezialgebiet wurde. Seither verknüpft sie interdisziplinär die germanistische und allgemeine, theoretische Linguistik mit Psychologie, Soziologie und Philosophie, soweit diese sich mit kognitiven und kulturellen Problemen befassen.
2005 erhielt sie für ihre „außerordentliche Forschungsleistung“, die sie in der Monographie „Numbers, Language, and the Human Mind“ zusammengefasst hat, den Susanne K. Langer-Preis. Das Buch war Ergebnis mehrerer Forschungsprojekte, die sie nach ihrer Dissertation 1997, gemeinsam mit venezuelanischen und US-amerikanischen Wissenschaftlern verwirklichte und in denen sie verschiedene Schattierungen des Verhältnisses von Sprache und Welt hinterfragt hat.
Die 40-Jährige wohnt mit ihrer Familie in Berlin, mitten in Kreuzberg, im Epizentrum eines anderen Forschungsinteresses, das sie umtreibt: die so genannte Kanak Sprak oder Kiez-Sprache. Bereits 2002 wurde sie unter anderem für ihr Hauptseminar „Krass reden“ mit der „Prämierung guter Lehre“ von den Studierenden ausgezeichnet. Ihr innovativer Lehransatz, der nicht nur selbständiges und sozial-interaktives Lernen fordert, und somit auf aktives Forschen statt auf passives Zuhören setzt, kam an und hatte auch außeruniversitäre Ergebnisse aufzuzeigen, denn das Seminar erstellte einen Beitrag für eine Ausstellung im Jugendmuseum Berlin-Schöneberg. Lene Zade
Lene Zade
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