
© Andreas Klaer
Schülerausstellung: Wand mit Einschusslöchern
Geschichte steht in Büchern und muss von den Schülern einschließlich der Bewertungen hingenommen und auswendig gelernt werden - es geht auch anders.
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Nauener Vorstadt - Einer solchen Form der Geschichtsvermittlung stellt die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße 1 eine andere Möglichkeit entgegen – die Jugendprojektreihe „Junge Zeitgeschichten“. Am Donnerstagabend wurden mit der Eröffnung der Schülerausstellung zu „Ernst-Friedrich Wirth und die Meuselwitzer Gruppe“ die Ergebnisse des ersten Projektes dieser Reihe präsentiert. Neun Schüler einer 12. Klasse des Freien Gymnasiums der Seeschule Rangsdorf erforschten das Schicksal des ehemaligen Untersuchungshäftlings in der Leistikowstraße, Ernst-Friedrich Wirth, der als Mitglied einer illegalen Diskussionsgruppe an der damaligen Friedrich-Engels-Oberschule im thüringischen Meuselwitz verhaftet, zunächst zum Tode verurteilt und dann zu 20 Jahren Strafarbeitslager begnadigt wurde. Andere Mitglieder der Gruppe – Heinz Eisfeld, Helmut Paichert und Heinz Baumbach, 19-, 21- und 26-jährig – wurden am 23. Oktober 1952 in Moskau hingerichtet.
Der heute 79-jährige Wirth stand den Schülern für das Projekt zur Verfügung und war auch zur Ausstellungseröffnung aus seinem Wohnort Köln angereist. „Wir durften in ihrem Leben forschen“, freute sich die Geschichtslehrerin Christine Sanzinska. Durch die Berichte des Zeitzeugen sei es ihren Schülern möglich geworden, „Vergangenheit als etwas Lebendiges zu begreifen“. Die Leiterin der Gedenkstätte Ines Reich hofft, dass das Projekt „Schule machen wird“ und dass sich zahlreiche weitere Forschungsprojekte mit Schülern ermöglichen lassen.
Entstanden ist durch die Forschungsarbeit der Rangsdorfer Schüler ein Schaukasten mit Dokumenten und Fotos sowie eine Medienstation mit Auszügen aus Interviews mit dem Ernst-Friedrich Wirth. Wie der Zeitzeuge berichtete, verbrachte er seine Kindheit im Nationalsozialismus. Erst nach 1945 sei er in ein Alter gekommen, selbst über politische Fragen nachzudenken. Er habe begriffen, dass die Menschen im Osten Deutschlands „in ein ähnliches System gepresst werden sollten, das wir schon hatten“ und das „kein Deut besser“ sei. Der später hingerichtete Lehrer Wolfgang Ostermann diskutierte mit den Schülern; beeinflusst habe ihn aber auch Literatur, nicht nur „westliche“, sondern auch russische wie „Die junge Garde“ von Alexander Fadejew.
Von den Schülern nach seinen schlimmsten Erfahrungen in der Untersuchungshaft oder im Arbeitslager Workuta befragt, wusste Wirth keine seiner Erfahrungen hervorzuheben. War es der Moment, als ihm, einem Schüler kurz vor dem Abitur, eine Pistole an den Kopf gehalten wurde? Oder als er das erste Mal in den Karzer kam? Oder war es die Situation in Brest (Weißrussland), wo sie alle ihre Sachen liegen lassen mussten, in einen Raum gezerrt wurden und sich mit dem Gesicht an eine Wand stellen mussten, eine Wand mit lauter Einschusslöchern? Als Ernst-Friedrich Wirth dachte, er würde nun erschossen?
Der Rangsdorfer Schülerin Cara Ahrens gingen die Schilderungen Wirths sehr nahe, „weil wir wissen, dass solche Menschenrechtsverletzungen noch heute in anderen Ländern stattfinden“.
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