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Landeshauptstadt: Warten und Tee trinken

Notunterkunft mit Defekt: Am Alten Rathaus ist die Hebebühne kaputt / Entgeisterte Reisende am Bahnhof

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Gegen 9 Uhr trifft das Personal des Alten Rathauses zusammen mit den ersten von der Evakuierung Betroffenen ein. Das Haus mit dem Goldatlas auf dem Dach wird für Ausstellungen genutzt. Ein Schild fordert die älteren Leute auf, Eintritt zu zahlen. Einige sind zu Fuß aus der Bombenzone, dem Zentrum Ost, bis zum Alten Markt gelaufen. „Man hat uns nicht verständigt, sonst wären wir schon eher da gewesen“, sagt ein Pförtner und räumt das Schild zur Seite. Erst am späten Nachmittag des Vortages war die Evakuierung des Wohnareals mit 12 000 Einwohnern wegen der Weltkriegsbombe bekannt geworden. Die Pförtner hätten davon erfahren können – wenn Radio hören während des Dienstes nicht verboten wäre.

Eine Gruppe älterer Damen äußert sich stocksauer: „Wofür die ihr Geld kriegen fragt man sich?“. Wer geht schon am späten Abend noch vor die Tür, um die Anschläge zu lesen? Ordnungsamtsmitarbeiter hatten sie eilig an die Häuser geklebt, um die Einwohner über die Evakuierung zu informieren. Die 75-jährige Romea Stendel sagt, zu DDR-Zeiten wären sie mit Lautsprecherwagen durchs Viertel gefahren. Die Frauen nehmen auf einer Bank vor dem Rathaus Platz, die an diesem Morgen noch in kühlem Schatten liegt.

Im Rathaus selbst ist es schwül, doch die Ausstellungsräume füllen sich, Rettungswagen auf Rettungswagen hält vor dem Haus. Sie bringen immer mehr zumeist ältere Zentrum-Ostler in Sicherheit. Sie müssen die Stufen zum Eingang hinauf, für die Rollstuhlfahrer und Behinderten macht sich schmerzlich bemerkbar, dass die Hebebühne am Seiteneingang defekt ist. So muss auch die 91-jährige Maria May draußen Platz nehmen. Als gute Fee erweist sich Jutta Michalke vom Gesundheitsamt, die das Hauspersonal dirigiert und Freiwillige zum Teekochen rekrutiert.

Vor dem Hauptbahnhof reagieren derweil Reisende entgeistert. Eine Frau erklärt, „wenn sie nicht soviel in der Erde buddeln würden, würden sie auch keine Bomben finden“. Ein Pärchen, das vom Berliner Alex nach Werder zum Zelten fahren wollte, fand sich per Schienenersatzverkehr auf dem Alten Markt wieder. Nun erfahren sie, das der Bahnhof gesperrt ist. „Und wir haben nicht ’mal Bier dabei“, knurrt die junge Frau in ihr Handy, mit dem sie ihren Freunden von der „Odyssee“ berichtet. Polizeioberkommissar Frank Böttger, der die Straße absperrt, die vom Bahnhof ins Zentrum Ost führt, findet aber, die Leute reagierten vergleichsweise entspannt. Weil Freitag ist und das Wochenende vor der Tür steht, glaubt er.

Locker gehen es auch die graumelierten Jungs des Berliner Rolling Stones- Fan-Clubs „1984“ an. Sie kommen vom Bikertreffen aus Jüterbog und wollen sich durch einen Besuch der Bahnhofsausstellung mit Malereien von Ron Wood auf das Stones-Konzert am Abend in Berlin einstimmen – aber selbst für sie bleibt der Bahnhof geschlossen. „Dann jehn wa erstma ’nen Käffchen trinken“, schlägt der „Kulturattaché“ des Fan-Clubs vor.

Am Alten Markt räumen die Helferinnen immer mehr Stühle vor die Tür. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich“, sagt eine. Sie weiß, dass die Sonne bald rum sein wird und sie die Stühle dann wieder reintragen muss, weil vor dem Rathaus kein Schatten mehr ist. Drinnen leidet ein Mann an Kreislaufproblemen, er wird ins Klinikum gefahren. „Wir können die medizinische Verantwortung nicht übernehmen“, sagt Jutta Michalke.

Derweil ist die Sonne weiter gewandert. Die Leute wandern mit, an der Längsseite des Alten Rathauses finden sie Schatten unter einem Kirschbaum. Davor steht ein Findling. Es ist der Gedenkstein des Bundes der Vertriebenen. Guido Berg

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