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Homepage: Wegwerfen oder Aufbewahren?

Wie Studenten der Informationswissenschaften gegen den DDR-Gedächtnisverlust arbeiten

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Hat sich irgendwo im Haushalt ein Berg Papier angesammelt, ein Stapel Zeitschriften, Programme vom Theater, Werbeprospekte, Briefe und was man sonst noch so aufhebt, stellt sich beim großen Aufräumen die Frage: Aufbewahren oder Wegschmeißen? Was sich im Privaten je nach Temperament und Ordnungssinn relativ einfach entscheiden lässt, wirft im gesellschaftlichen Raum komplizierte Fragen auf, besonders dann, wenn, wie nach dem Ende der DDR, der Nachlass eines ganzen Landes „aufgeräumt“ werden muss.

Studierende der Informationswissenschaften an der Fachhochschule Potsdam beschäftigen sich in diesem Semester deshalb intensiv mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, die sie zum großen Teil selbst schon nicht mehr miterlebt haben. Die künftigen Archivare und Bibliothekare aber wissen um ihre Verantwortung: Von ihrer Arbeit wird es einmal mit abhängen, welches Bild sich künftige Generationen von der DDR-Gesellschaft machen können.

„Ich sauge im Moment alles auf wie ein Schwamm“, sagt Julia Sammler, die Archivwissenschaften studiert. Die Beschäftigung mit dem Thema habe sie sensibilisiert und ihre Wahrnehmung geschärft.

Die Studenten suchen authentische Orte auf: den ehemaligen Mauerstreifen, Gedenkstätten für die Opfer politischer Gewalt, aber auch Museen für Alltagsgeschichte. Gegen den Gedächtnisverlust haben sie unter Anleitung der Archivwissenschaftlerin Professor Susanne Freund eine öffentliche Vortragsreihe organisiert, die sich mit der Aufarbeitung des DDR-Nachlasses beschäftigt.

Zum Auftakt, unlängst im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, berichteten Ulrike Becker und Birgit Hausstein von der Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen (GESIS) über die Dokumentation der brisanten DDR-Sozialforschung in der Wendezeit. Während von Wissenschaftlern in Westdeutschland noch bezweifelt wurde, dass es in der DDR überhaupt soziologische Untersuchungen mit tragfähigen empirischen Daten gegeben habe, versuchten die Mitarbeiter der GESIS zu retten, was zu retten war. Die meisten Institute und Akademien befanden sich in Abwicklung. Soziologen wurden arbeitslos und nahmen ihre Forschungsergebnisse mit nach Hause. Unmengen von Akten und Papier, Magnetbänder und andere Datenträger wurden einfach auf den Müll geworfen oder stapelten sich auf Fluren und Gängen – zur allgemeinen Selbstbedienung.

Dennoch gelang es den Archivaren, wichtige soziologische Erhebungen, etwa des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung oder der Akademie der Wissenschaften, zu sichern und aufzubereiten. „Wenn wir nicht den Zugriff auf die Aktenschränke der Sozialforscher erhalten hätten“, so die rückblickende Einschätzung der beiden Frauen, „dann wüssten wir heute nicht, wie die DDR sich selber tatsächlich gesehen und analysiert hat.“ Das gefundene Material ist inzwischen in zehn Bänden zur DDR-Sozialforschung herausgegeben worden – ein Fundus für die historische Forschung. Deutlich wurde, dass es nicht ausreicht, einfach nur Daten zu sammeln und zu ordnen. Man müsse sie auch im Kontext ihrer Entstehung sehen und beschreiben können, unter welchen ideologischen Voraussetzungen und mit welchem politischen Auftrag die Befragungen in der DDR durchgeführt wurden, so die Referentinnen. Das aber setze entsprechendes geschichtliches Wissen voraus.

Für die Studierenden eine Bestätigung, mit ihrem Projekt auf dem richtigen Weg zu sein. Zur nächsten Veranstaltung am kommenden Dienstag um 17 Uhr im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte haben sie den Leipziger Buchwissenschaftler Siegfried Lokatis eingeladen, der über die Rolle der Bibliotheken und das „heimliche Lesen“ in der DDR sprechen wird. Dierk Eichel, Student der Bibliothekswissenschaften, hatte als Kind noch nicht bemerken können, dass viele Bücher verboten oder zensiert waren. Erst jetzt, sagt er, werde ihm das bewusst. Im Vortrag von Siegfried Lokatis wird er erfahren, wie ganze Bücher in einer Welt ohne Kopiergeräte vervielfältigt wurden und welche Energien die heimlichen Leser freisetzten, um an die „illegalen Schriften“ zu gelangen.

Die Studenten erhoffen sich bei diesem Thema ebenso viel öffentliches Interesse, wie es schon jetzt für den Vortrag am 11. Juni erkennbar ist. Dann nämlich wird Joachim Gauck über die Archivierung der Unterlagen der Staatssicherheit sprechen. Vorsorglich haben die Studenten dafür den größten Hörsaal ihrer Fachhochschule in der Friedrich-Ebert- Straße reserviert.

Antje Horn-Conrad

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