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Landeshauptstadt: Weihnachtsmann im weißen Kittel

Chefarzt Michael Radke kann nicht alle Wünsche erfüllen. Dass seine kleinen Patienten aber vor dem Fest entlassen werden, schon.

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Chefarzt Michael Radke kann nicht alle Wünsche erfüllen. Dass seine kleinen Patienten aber vor dem Fest entlassen werden, schon. Von Nicola Klusemann Mit einem herzförmigen Pflaster ist die Elektrode auf dem winzigen Brustkorb befestigt. Die gemessene Herzfrequenz fließt durch einen dünnen Draht zum Monitor, auf dem regelmäßig geschwungene Kurven erscheinen. Die kleine Patientin wiegt unter 1000 Gramm – ein Frühchen. Weil das kleine Mädchen das Licht der Welt zu früh erblickte, ist die Augenärztin bei ihr. Sie will sich ihre empfindliche Netzhaut anschauen. Dass der Arzt zum Patienten kommt und nicht umgekehrt, ist eines der ungeschriebenen Gesetze der Klinik für Kinder und Jugendliche unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Radke. Und das gelte nicht nur für die Kleinsten auf seiner Station, die vom Neugeborenen bis zum Teenager alle aufnimmt. Die Abteilung im Klinikum Ernst von Bergmann übernimmt mit ihrer Arbeit eine Vorreiterrolle auf dem medizinischen Sektor Pediatrie. 21 Spezialisten aus drei verschiedenen Fachrichtungen arbeiten in der Klinik unter einem Dach: Kinderchirurgen, HNO-Ärzte und Stoffwechsel-Fachleute. „Wir tragen eine hohe Verantwortung“, erklärt der Chefarzt. Bei den schwachen Geburtenzahlen in den vergangenen Jahren könne man es sich nicht mehr leisten, Kinder zu verlieren, weil sie nicht rechtzeitig versorgt oder falsch behandelt würden. Zehn Prozent der Schwangerschaften und Geburten verliefen mit Komplikationen. Deshalb könne im Ernst von Bergmann im Ernstfall ein gerufener Kinderarzt innerhalb von einer Minute im Kreißsaal sein, um das Neugeborene gleich zu betreuen, schildert Michael Radke die Vorsichtsmaßnahme. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Auch in diesem ausgehenden Jahr hatte seine Abteilung keinen Todesfall zu beklagen. 1300 Babys wurden im Klinikum geboren, rund 3000 Patienten behandelte die Kinder- und Jugendklinik. Das Sorgenkind Marc (Name von der Redaktion geändert) kam im Mai zwar voll entwickelt in der 30. Schwangerschaftswoche zur Welt – jedoch fehlte dem Jungen ein Stück Speiseröhre. Seit seiner Geburt hat er das Krankenhaus nicht verlassen. Mehrere Operationen liegen schon hinter ihm, er wird über eine Sonde künstlich ernährt. Der Säugling traut sich nicht zu schlucken, obwohl ihm das fehlende Stück Speiseröhre eingesetzt wurde. „In den ersten Wochen wurde der produzierte Speichel abgesaugt.“ Daran hat sich Marc wohl gewöhnt. Vor den Feiertagen werde noch einmal operiert, erklärt der Chefarzt. Seine erste Weihnacht muss der Kleine wahrscheinlich in der Klinik verbringen. Wann die Kinder entlassen werden, ist in diesen Tagen vor Weihnachten die wohl meist gestellte Frage an das Fachpersonal. Ein Einjähriger hat sich Schulter und Arm verbrüht. Seine Mutter sitzt am Gitterbett und streichelt ihrem Sohn die Wange. Ihr Junge war bei den Großeltern, die eine Kaffeetafel gedeckt hatten. Eine der Kaffeetassen stand zu nah am Tischrand. Das Kind zog sich hoch, bekam den Tassenhenkel zu fassen. Das Gefäß kippte, sein glühend heißer Inhalt ergoss sich über den Einjährigen. Geistesgegenwärtig hätte die Oma das unter Schock stehende Bündel gepackt und unter den kalten Wasserhahn gehalten, lobt der Mediziner. Das kalte Wasser verhindere das Wandern der Hitze in tiefere Hautschichten und damit schlimmere Verbrennungen. „Kann ich mein Kind bald wieder mitnehmen“, bittet die Mutter. „Natürlich“, tröstet Radke. „Vor Weihnachten räumen wir auf“, scherzt der Klinikleiter. Jeder kleine bis mittelgroße Patient, der zu Hause versorgt werden kann, wird in den nächsten Tagen die Klinik verlassen. Daheim heilen alle Wunden schneller. Darum laute ein Grundsatz der Kinderheilkunde: „Kranke Kinder gehören grundsätzlich nach Hause.“ Und nur wenn zu Hause die Behandlung nicht machbar ist, sei eine stationäre Aufnahme angebracht. Der Krankenhausaufenthalt sollte für Kinder und Heranwachsende mit möglichst geringen Belastungen einhergehen. So könnten Mutter oder Vater, besonders von Säuglingen und Kleinkindern, mit aufgenommen werden. Das beruhige Eltern und den kleinen Patienten. Radkes Klinik, die auf zwei Etagen im Neubaublock des Bergmann-Krankenhauses verteilt ist, wurde vom Pflegepersonal gemütlich gestaltet. Pappbäume und Nikolausstiefel aus Filz hängen zwischen Watte-Wolken von der Stationsdecke. Der Weihnachtsmann huschte auch schon mehrfach von Zimmer zu Zimmer, um sich die Wunschlisten abzuholen. Die Türen zu den Spiel- und Computerräumen stehen auf. Wenn der Chef mit wehendem weißen Kittel über den Flur fegt, wird er mehrmals gestoppt. Kurze Absprache, kleines Anliegen. Manchmal wird er auch nicht erkannt. „Wer bist du denn eigentlich“, fragt die zwölfjährige Aileen, auf deren Nachttisch ein Rosengesteck mit rosa Herz und der Aufschrift „Gute Besserung“ steht. Prof. Dr. Radke beugt sich zu dem frechen weißblonden Mädchen herunter, aber nur um zu sehen, welcher neuer Tratsch in seiner illustrierten Lektüre steht. Der Mediziner lacht: „Ich bin hier der Chefarzt.“ Die anderen beiden Teenies im Zimmer kichern. Isabel, Maria-Magdalena – beide 14 – und die zwölfjährige Aileen sind Leidensgenossinnen. Allen Dreien wurden vor wenigen Tagen die Mandeln entfernt. Sie bilden den Club der kühlenden Halskrausen. „Können wir bald raus“, bettelt Aileen. „Nicht, wenn du so frech bleibst", scherzt der Chefarzt. Auch das unterscheide die Kinderheilkunde und Jugendmedizin von der Behandlung Erwachsener: „Bei uns werden alle Patienten geduzt.“ Und man lege, wenn möglich, Altersklassen und nicht Krankheiten zusammen. Dass es erklärtes Ziel von Prof. Radke und seinem Team ist, keinen unnötig lange in der Klinik zu behalten, zeigt die durchschnittliche Verweildauer pro Patient von 3,9 Tagen. Schwere Fälle treiben natürlich den Schnitt in die Höhe. Zu den eher großen Ausnahmen gehört dabei auch die Drillingsgeburt Anfang November. „Im Land Brandenburg kommt das alle zwei Jahre vor“, zitiert der Fachmann aus der Statistik. Eines der drei Kinder kam im Mutterleib etwas zu kurz und so wog Hannah bei der Geburt nur 980 Gramm, viel zu wenig, um gleich das Krankenhaus verlassen zu dürfen. Um die Kinder nicht zu trennen, wurden auch die beiden Geschwister auf der Frühchenstation mit aufgepäppelt. Dank zusätzlicher Breiportionen und reichhaltiger Nahrung legte Hannah in den letzten Wochen eine Gewichtszunahme hin, die für jeden Diätenden ein Trauma wäre. Das winzige Mädchen wiegt nun fast doppelt so viel wie am Tag ihrer Geburt. Die Klinik hat sich rührend um die kleine Großfamilie gekümmert. Michael Radke selbst hat erreicht, dass ein Baby-Nahrungshersteller ein Jahr lang den Drillingen kostenlos den Brei zur Verfügung stellt. Ein ähnliches Abkommen soll jetzt auch mit einem Windelfabrikanten geschlossen werden. BeiDreien auf einmal braucht Mutter Nancy Wegner im Monat rund 700 Windeln. Gezählt wird ab den Feiertagen, denn auch Lea, Lucas und Hannah dürfen höchst wahrscheinlich zu Hause auf den Weihnachtsmann warten. Auch wenn in dieser Woche fast alle Patienten der Kinder- und Jugendklinik ihre Entlassungspapiere bekommen, bleibt auf der Station genug zu tun. Besonders Brandverletzungen durch Adventskranz und Weihnachtsbaum häuften sich jetzt, weiß der erfahrene Mediziner. Hinzu kämen bei Glatteis und beim Eislaufvergnügen diverse Brüche. Und wenn ein Kind auf die Welt kommen will, halte es sich auch nicht an die gesetzlich festgelegten Feiertage.

Nicola Klusemann

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