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Was ist geschmackvoll? Am Einstein Forum analysierten Wissenschaftler den Geschmack und seine Rituale
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Der Geschmack von Lakritz und Fisch würde sich bestens ergänzen, meint Dominic Bonfiglio, Philosoph und Mitarbeiter am Einstein Forum. Was den besonderen „Flavour“ der Kombination von Meeresfrucht und Süßigkeit ausmacht, vermag er allerdings nicht so recht zu erklären. Der spezielle Geschmack eines Nahrungsmittels sei mehr als die Summe seiner Anteile, meint Bonfiglio. Das „Schmecken“ war vergangenen Freitag Thema eines Symposiums des Einstein Forums. Der Geschmackssinn und das gesellschaftliche Drumherum des Speisens standen im Fokus. „Der Geschmack ist ein Mysterium“, stellt Bonfiglio fest.
Der Philosoph Immanuel Kant hielt vom Geschmackssinn eher wenig, konstatiert Bonfiglio. Denn über den lasse sich bekanntlich viel streiten, ohne dass ein universal gültiges Urteil oder eine weiterführende Erkenntnis in Sicht komme. Es sei das Elend der Primärsinne, dass sie nicht erkenntnisfähig seien. Nur das Auge ermögliche eine distanzierte Weltwahrnehmung und eine Auswertung des Gesehenen durch die kritische Reflexion, behauptete der tendenziell körperfeindliche Kant. Das sei der Weg zu höherer Erkenntnis. Dem widersprach allerdings schon Jean Anthelme Brillat-Savarin um 1800. Der französische Richter arbeitete mutmaßlich 25 Jahre an der „Physiologie des Geschmacks“. Einem Werk, das weit über die reine Kochkunst hinausging und ins Philosophische neigt. „Es mag merkwürdig klingen, aber Savarin beschreibt den Geschmack mit derselben Subtilität, die Kant für den gestirnten Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns reserviert hatte“, bemerkt Bonfiglio.
Harald Lemke wies mit seinem Referat „Wissen essen oder die Weisheit eines guten Geschmacks“ darauf hin, dass der Mensch zu Kants Zeiten gerne auf seinen Geist und seine Erkenntnisfähigkeit reduziert worden sei. Die Befreiung der Sinne sei allerdings damals wie heute ebenfalls ein Thema gewesen. Das würden nicht zuletzt zahllose Kochshows und kulinarische Ratgeber in den Medien zeigen. „Der Geschmack ist eigentlich ein organloser Sinn“, stellt Lemke fest. Erst aus der Verbindung der verschiedenen Eindrücke von Zunge und Nase entstehe der Geschmack. Unzählige Rezeptoren würden den Rohstoff liefern, aus dem das Hirn schließlich den Gesamteindruck forme. Ob eine Suppe als versalzen oder wohl gewürzt wahrgenommen werde, sei dennoch nicht zuletzt eine Frage der Konvention. Immerhin gebe es mittlerweile die Wissenschaft der Gustatorik. Die versuche sich dem Phänomen des Geschmacks über die Physiologie des Menschen zu nähern. Leider bliebe hierbei gelegentlich die sinnliche Komponente auf der Strecke. Immerhin habe die Gustatorik aber bereits jetzt die Erkenntnis zutage gefördert, dass die speziellen Geschmacksrichtungen süß, sauer, bitter, salzig und umami wahrscheinlich nicht nur an einer speziellen Stelle des Gaumens entstehen würden, sondern die Rezeptoren wohl flächendeckend verteilt seien.
Essverhalten und Geschmacksurteile seien stets Gradmesser für soziale Prozesse, meint Gunther Hirschfelder: „Hühnerfrikassee gibt es eigentlich gar nicht mehr, außer im Zugrestaurant.“ Die sättigende Speise sei in den 70er-Jahren modern gewesen, falle aber heute völlig aus dem Ernährungsspektrum heraus. Das erkläre sich einerseits damit, dass die Nachkriegsgeneration sich gerne ausgesprochen nahrhafte Gerichte gegönnt habe. Andererseits gehe der Trend gegenwärtig zum ökologisch korrekten Konsum.
Überhaupt sei die Tätigkeit des Essens stets von Ritualen geprägt gewesen. In der Steinzeit sei die Verteilung und der Verzehr der verspeisten Beute ein „Überlebenswerkzeug“ gewesen. In Klöstern und an mittelalterlichen Höfen habe es strenge Speiserituale gegeben. Die hätten eine hohe Konzentration auf das Essen ermöglicht. In der Gegenwart jedoch verfalle die Esskultur zusehends. Das gelte sowohl für den Jugendlichen, der sein Essen in sich hineinschiebe und nebenbei fernsehe, surfe und ein Sudoku zu lösen versuche, als auch für Hipster, die nicht von ihrem Handy lassen können. Für die gebe es mittlerweile in Asia-Restaurants Essschüsseln, bei denen das Handy während des Essens in eine Tasche an der Oberseite der Schüssel gesteckt und so bequem abgelesen werden könne. „Da schmecken sie gar nichts mehr“, meint Hirschfelder. Richard Rabensaat
Richard Rabensaat
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