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WENDLANDS Sicht: Welch eine Zeit!

Wo leben wir eigentlich? Da hat Potsdam Menschen, die als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt werden – in Israel.

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Wo leben wir eigentlich? Da hat Potsdam Menschen, die als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt werden – in Israel. Als Gerechte unter den Völkern werden nur Menschen geehrt, die konkret und sicher belegbar Juden gerettet oder bei einer Rettungsaktion geholfen haben, unter nachweislich eingegangenem persönlichem Risiko und ohne Verlangen einer Gegenleistung für die gewährte Hilfeleistung und nicht-jüdischer Abstammung sind. Man sah im Verhalten dieser verhältnismäßig wenigen Einzelpersonen Beispiele dafür, was vielen weiteren Zeitgenossen des Holocausts an Hilfe für die Juden möglich gewesen wäre, wenn sie diese als persönliche Verpflichtung angesehen hätten. Diese Beispiele wollte man der Nachwelt ebenso überliefern wie die Verbrechen. Und in Potsdam kennt man diese Menschen, es sind in Potsdam nachweislich sieben „Gerechte“.

Die Nikolaikirchengemeinde und Pfarrerin Susanne Weichenhan haben einem davon, Pfarrer Günter Brandt, im März mit Hilfe privater Spender eine Gedenktafel gestiftet, weil die Stadt Potsdam dafür kein Geld hat. 650 Euro hat diese Tafel gekostet, einen wunderbaren Nachmittag gab es gratis dazu. 650 Euro hat die Stadt Potsdam nicht. 650 Euro, die nicht da sind für die Ehrung von Menschen, die Nachteile und Gefahr für sich und ihre Familien in Kauf genommen haben, um Menschen zu retten vor Verfolgung und Tod. „Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet“ ist der Anspruch für diese Ehrung. Es geht hier nicht allein um Juden, sondern um eine Haltung, die in der Tat höchste Ehrung und Achtung hervorrufen sollte. Für Uferwege, Gutachten, Workshops werden ohne mit der Wimper zu zucken Tausende bis Millionen ausgegeben. Aber niemand aus der Stadtspitze hat bisher verkündet, Gedenktafeln denen zu widmen, die weder Geld noch Druck noch Gefahr für das eigene Leben über das Gewissen stellten. Und da frage ich mich, was ist denen heute ein Menschenleben wert, die nur Geld und Macht akzeptieren? Was sind denen die Bürger Potsdams wert, die in jüngster Vergangenheit auf die Straße gegangen sind – auch unter Gefahr für das eigene Leben, um einen Staat abzuschütteln, in dem Macht und Ideologie über allem stand? Was sind denen die Menschen wert, die hier lebten und hier geblieben sind und hofften, Potsdam und die Gemeinschaft wirklich gestalten zu können?

Viele Potsdamer, die das Ende der DDR erlebt haben, fühlen sich stark an frühere Zeiten erinnert. Doch wenn man das sagt, heißt es gleich, das könne man nicht vergleichen – nein, es geht nicht um Gleichsetzung. Selbstverständlich können wir reisen, fahren wir Westautos, haben wir die Möglichkeit wegzuziehen und können studieren, was wir wollen. Doch wer das anführt, muss sich fragen lassen, ob es im Leben nicht auch um andere Dinge gehen sollte. Menschen der Vergangenheit, denen es nicht um Besitz und Macht ging, zu ehren und damit gleichzeitig als Vorbilder zu achten, würde ein echter Weg in die Zukunft sein. Ein Weg in ein gemeinsames Miteinander, bei dem nicht nur Geld, Besitz und Macht zählen, sondern Werte, Tugenden und Handlungen, die allein vom Gewissen und einer allgemeingültigen Ethik bestimmt sind.

Unser Autor lebt seit 1945 in Potsdam. Er studierte in Berlin und Dresden und ist seit 1968 als Architekt in Potsdam tätig.

Christian Wendland

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