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Landeshauptstadt: Wenig Stimme – viel geredet

Joschka Fischer praktiziert beim Wahlkampfauftritt Angriff und Verteidigung

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Joschka Fischer praktiziert beim Wahlkampfauftritt Angriff und Verteidigung Von Peter Könnicke Seiner Stimme hat der Ausflug nach Potsdam nicht gut getan: Joschka Fischer ist heiser, so dass sich der Mann in der zweiten Reihe fragt, aus welcher Kneipe der Außenminister denn wohl komme. Doch er kämpfe für jede Stimme, krächzt Fischer, auch für seine eigene. Potsdam am Donnerstag Nachmittag: Der Durchlass durch das Brandenburg Tor ist zu, weil direkt davor die Wahlkampfbühne der Grünen steht. Auf dem Platz davor haben sich etwa 500 Menschen versammelt und bis zu Fischers Rede ist die einzige Attraktion ein Stand mit bündnisgrünen Wahlsouveniers: Brausepulver für die Kleinen – mit der Botschaft, dass „prickelnde Ideen grün sind“. Und Kondome für die Großen, mit dem Ratschlag: „Merkel verhüten!“ Das bunt gemischte Publikum überbrückt die Wartezeit mit Gesprächen über Finanzmakler, Fahrschulstunden und „Gregor und Oskar“. Eine ältere Dame erzählt einen Witz: „Wenn zwei Düsseldorfer sich Stroh an den Kopf werfen, ist das ein Gedankenaustausch.“ Und durch die Lautsprecher hallt Rio Reiser. Als er punkt 17 Uhr „König von Deutschland“ singt, klingt das nach einem perfekt inszenierten Timing. Doch Fischer ist nicht da. Er steht im Stau. Mit einer halben Stunde Verspätung beginnt der Vorkämpfer der Grünen seinen rhetorischen Feldzug zwischen den Frontlinien dieser Bundestagswahl. Er deklariert den 18. September zum Schicksalstag, an dem der Sozialstaat entweder „völlig zerstört“ wird oder die Chance bekommt, unter den Bedingungen einer immer älter werdenden Bevölkerung und der Globalisierung erneuert zu werden. Er lässt die Bürgerversicherung der Grünen gegenüber der Kopfpauschale der Union triumphieren, weil das erste ein „solidarisches Gesundheitssytem“ bedeute, das andere eine „Teilprivatisierung der gesetzlichen Krankenkassen“, bei der die sozial Schwachen auf der Strecke blieben. Er prohezeit den „Abschied von Gerechtigkeit im Steuersystem“, wenn es nach den Vorschlägen von Union-Finanzexperten Paul Kirchof zu einer 25-prozentige Einheitssteuer kommt: „Auf diesem Kirchhof wird die Gerechtigkeit begraben.“ Fischer preist erneuerbare Energien als Jobmotor, während Merkel im Rückwärtsgang zur Atomenergie steuere, er wirft der Linkspartei vor, „das Blaue vom Himmel“ zu versprechen, plädiert für einen gesetzlichen Anspruch auf Kinderbetreuung vom ersten Lebensjahr an und beschwört das Vertrauen in eine ökologische und soziale Politik. Im Publikum wird nicht nur geklatscht. Aus einer Gruppe Jugendlicher, die mit provokanten Thesen wie „Mach mit bei Auslandseinsätzen“ Wahlplakate der Grünen zum Protestschild umfunktioniert haben, tönt es ihm entgegen: „Kriegstreiber!“ Fischer verteidigt den Einsatz im Kosovo und in Afghanistan, die in seine Ära als Außenminister fallen. Er entzieht sich nicht dem lautstarken Zwischenruf, dass die rot-grüne Globalisierungspolitik die deutsche Wirtschaft kaputt mache. „Deutschland lebt von offenen Märkten“, argumentiert Fischer, der sich letztlich wegen der anhaltenden Diskussionsfreude seines Widerparts im Publikum mehr um dessen Herz sorgt als um Verständnis für seine Argumente. Das Ende ist genauso hektisch wie der Anfang. Fischer winkt – mehr höflich als freudig - und hastet zum Auto. In zwei Stunden beginnt die „Berliner Runde“ im ZFD mit Merkel, Stoiber, Clement und Westerwelle. Da muss er gut bei Stimme sein.

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