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Landeshauptstadt: Weniger Bürokratie, mehr niedrige Bordsteinkanten

Gestern konstituiert: Der neue und erste Potsdamer Behindertenbeirat stellt sich vor

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Gestern konstituiert: Der neue und erste Potsdamer Behindertenbeirat stellt sich vor Gestern hatte der neue, erste Behindertenbeirat Potsdams seine konstituierende Sitzung. Die Geschäftsordnung wurde beschlossen, Harald Haase zum Vorsitzenden und Maik Franke zu seinem Stellvertreter gewählt. Die PNN stellen die aus den Behindertenverbänden der Stadt gewählten Beirats-Mitglieder und ihre Ziele vor: Rolf Gutsche (41) vertritt die Mobilitätsbehinderten. Er lebt seit 21 Jahren in Potsdam, wohnt alleine und arbeitet in den Diakonischen Werkstätten im Bereich der Aktenvernichtung. In seiner Freizeit schreibt der Gedichte und kleine Geschichten. Er ist Mitglied im Literaturclub und der Theatergruppe im Haus der Begegnung. Für Behinderte kann in der Stadt noch einiges getan werden, meint der 41-Jährige. Im Beirat wird er sich für weniger Bürokratie und Behördengänge für Behinderte einsetzen. Er wünscht sich, dass die Stadt allen Menschen die Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben bietet. Die gebürtige Potsdamerin Heidi Schulze (63) ist blind. Schon als Kind hat sie schlecht gesehen, trotzdem hat sie bis zur zehnten Klasse eine Regelschule besucht, dann an einer Blinden- und Sehbehindertenschule das Abitur gemacht und an der Humboldt-Universität in Berlin Volkswirtschaft studiert. Anschließend arbeitete sie am Institut für Ernährungswissenschaften. Seit Ende der 60er Jahre arbeitet sie im Blindenverband mit, zunächst ehrenamtlich, dann hauptberuflich. Heute ist sie Rentnerin und ehrenamtlich für das Sozialwerk Potsdam tätig. Sie hat in der Arbeitsgruppe, die den Beirat vorbereitete, mitgearbeitet. Für Potsdam wünscht sie sich, dass die Stadt bei Baumaßnahmen nicht immer wieder „vergisst“ Bordsteinkanten nicht auf null, sondern auf drei Zentimeter abzusenken, damit Blinde mit ihren Stöcken die Barriere tasten können, dass Baustellen behindertengerecht abgesperrt werden, und dass die Belange von Behinderten in der Stadt auf Gehör und Verständnis stoßen. Erika Binder (66) von der deutschen Parkinson Vereinigung Potsdam setzt sich im Beirat für die Gruppe der chronisch Erkrankten ein. Seit dreieinhalb Jahren leidet sie unter Parkinson. Bis zur Rente arbeitete sie als Pharmazie-Ingenieurin, die Krankheit begann, als sie bereits aus ihrem Beruf ausgeschieden war. Sie ist in Potsdam aufgewachsen. Michael Balz (42) geht für Geistigbehinderte in den Beirat. Er lebt seit seiner Geburt in Potsdam, ist Vorsitzender des Vereins Lebenshilfe und hat einen zwölfjährigen geistigbehinderten Sohn. „Geistigbehinderte Menschen können sich selbst nur schlecht artikulieren. Diese Aufgabe übernehme ich im Beirat für sie.“ Viele Geistigbehinderte sind mehrfachbehindert, auch mobilitätsbehindert. Der 42-Jährige hofft, dass Potsdam barrierefreier wird. Weiter wünscht er sich weniger Bürokratie, weniger Anträge und Rennereien zu den Behörden, sondern Erleichterungen und Unterstützung von Seiten der Stadtverwaltung. Maik Franke (22) ist von der angeborenen Querschnittslähmung Spina bifida betroffen. Er sitzt im Rollstuhl und geht für die Gruppe der Schwer-Mobilitätsbehinderten in den Beirat. Vor knapp drei Jahren zog er von Berlin nach Potsdam, in seine erste eigene Wohnung und fühlt sich hier sehr wohl. Er ist Fachangestellter für Bürokommunikation, seine Ausbildung hat er bei der Bundestagsfraktion der SPD gemacht. Mittlerweile arbeitet er als Sekretär für die Arbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus (ASbH) in Potsdam. Zu den großen Potsdam-Problemen gehört für Mobilitätsbehinderte, dass der Fahrstuhl in der Stadt- und Landesbibliothek immer noch nicht fertig ist und viele Straßen mit historischem Stein gepflastert sind. Da müsste ein Kompromiss mit der Denkmalpflege geschlossen werden, meint der 22-Jährige. Jürgen Becker (50) ist Vorsitzender des Allgemeinen Potsdamer Behindertenverbandes. Er ist Diabetiker und in Folge der Krankheit sehbehindert. Jürgen Becker ist verheiratet, hat drei Kinder und ist seit sechs Jahren in Rente. In seiner Freizeit engagiert er sich in mehreren sozialen Initiativen. „Ein Ziel des Beirats muss es sein, die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Behindertengruppen zu bündeln“, meint er. Hannelore Mehls (57) engagiert sich seit 1995 im Verein Lebenshilfe. Sie hat einen geistigbehinderten Sohn. Durch ihn hat sie viel Kontakt zu Behinderten, in der Schule, beim Behindertensport, privat. Sie ist erschrocken darüber, wie sehr Geistigbehinderte in der Gesellschaft, sogar in der Verwandtschaft, ausgegrenzt werden. „Das muss anders werden. Sie sind wichtige Persönlichkeiten, die dazugehören“, sagt sie. Die 57-Jährige will sich für mehr Akzeptanz, Toleranz und Integration einsetzen. Und dafür, dass geistige Behinderung mobiler Behinderung gleichgesetzt wird. „Warum müssen Begleitpersonen von Geistigbehinderten bei Veranstaltungen vollen Eintritt zahlen, die Begleiter von Rollstuhlfahrern aber nicht?“, fragt sie. Joachim Lange (60) ist seit seiner Geburt gehörlos. Er ist gebürtiger Potsdamer, verheiratet, hat zwei Kinder. An der Universität Potsdam arbeitet er als Dokumentationsbearbeiter. Im Behindertenbeirat vertritt er den Kreisverband des Vereins für Gehörlose Potsdam und Umgebung, dessen Vorsitzender er ist. Es ist wichtig, hörgeschädigte Menschen aus der Isolation herauszuholen, sagt Lange. Es geht im darum, Informationslücken auszugleichen, neue Wörter bekannt zu machen, Begriffsinhalte zu erklären, Nachrichten zu vermitteln. Er wünscht sich, dass Kommunikationsbarrieren zwischen Hörenden und Gehörlosen abgebaut werden. Als Mitglied des Beirats will er bewirken, dass alltägliche Barrieren verschwinden, beispielsweise bei Verkehrsmitteln, öffentlichen Gebäuden, kulturellen Einrichtungen und auf den Potsdamer Bahnhöfen. „Es muss erreicht werden, dass das Potsdamer Stadtfernsehen Potsdam TV und auch der RBB Nachrichten untertiteln“, fordert der Gehörlose. Für psychisch Erkrankte sitzt Harald Haase (43), aus der Selbsthilfegruppe „Wir unter uns“ im Beirat. Er lebt seit 1984 in Potsdam, hat Familie und arbeitet beim Wachschutz. Bis 1994 war er Diplom-Ingenieur für Schweißtechnik. Im Behindertenbereich hat er sich im Sekiz e.V. und beim I-Punkt engagiert. „Die Finanzierung von Behindertenarbeit muss stimmen“, sagt er. Behindertenprojekte würden oft unter zu wenig Geld leiden, dagegen will er im Beirat ansteuern. Aufgezeichnet von Marion Hartig

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