Von Henri Kramer: Wenn Realität verschwimmt
In Potsdams Suchtberatung kommen immer mehr junge Menschen, die exzessiv am Computer spielen
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Pffft. Der Ork bricht zusammen, gerade noch ist er auf René zugestürmt. Doch der hat einfach per Mausklick seinen Bogen gespannt, ein Pfeil zischt durch die Luft. Pffft. In seinem zweiten Ich ist René ein furchtloser Elfen-Krieger, besonders erfahren im Bogenschießen. In dem PC-Rollenspiel „Das Schwarze Auge“ bekommt der Held des 24 Jahre alten Potsdamers täglich mehr Erfahrungspunkte, bessere Waffen, magische Schätze. Das kostet Zeit. Zurzeit zockt der 24 Jahre alte Potsdamer bis zu sechs Stunden täglich – der Politikstudent hat Semesterferien, gerade zwei Wochen wirklich frei. „Und wenn ich mich an einem Spiel festgebissen habe, ist es manchmal nicht einfach, wieder aufzuhören.“
Die Versuchung, seine Helden tagelang durch virtuelle Welten zu steuern: Längst sind Jugendschützer darüber besorgt. Erst Anfang der Woche meldete das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN), das 15-jährige Jungen derzeit durchschnittlich 130 Minuten pro Tag spielen statt 91 Minuten wie noch drei Jahre zuvor. Zusammen mit den gefundenen Gewaltspielen auf dem PC des Amokläufers von Winnenden ist der Computerzocker einmal mehr in den Fokus von Politik und Jugendschutz gerückt.
Das ist auch der Fachtagung „Mediensucht“ anzumerken, die gestern im Alten Rathaus stattfindet. Vor allem Jugendsozialarbeiter sind gekommen. Und reden über Jugendliche, über den Grat zwischen exzessiver Nutzung für kurze Zeit und wirklich krankhaftem Gezocke – und die Gründe dafür. „In der Debatte um Computerspiele versucht jeder Experte in sich schlüssig zu argumentieren – aber Daten und Fakten gibt es nur wenige“, stellt Referent Mike Große–Loheide von der Gesellschaft für Kommunikationskultur gleich zu Beginn fest.
Einer, der zumindest die Symptome von Computerspielsucht kennt, ist Daniel Zeis. Er ist bei der Beratungsstelle der Arbeiterwohlfahrt für Suchtkranke und -gefährdete in der Berliner Straße angestellt. In den letzten Monaten haben sich die Besuche von jungen Potsdamern gemehrt, die nicht mehr vom PC loskommen: 12 waren es im vergangenen Jahr, doppelt so viele wie noch 2007. Fast alle sind männlich, ihr Alter liegt zwischen 18 und 25 Jahren, Studenten sind genauso betroffen wie Jungs mit Hauptschulabschluss. „Gespielt wird ja schon ab 14 Jahren, aber manche packen den Absprung nicht“, sagt Zeis. 80 Prozent der Suchtkranken seien wegen Online-Rollenspielen gekommen, gerade wegen „World of Warcraft“. Das Spiel ist das erfolgreichste seiner Art, weltweit spielen elf Millionen Menschen in einer Fantasy-Welt gegeneinander, als Zwerge oder Diebe – und wer länger am PC sitzt, steigt in der virtuellen Gesellschaft schneller auf, hat eher den Ruf eines mächtigen Zauberers oder Kriegers.
Verliert sich ein junger Mensch in so einer Welt, stellt Daniel Zeis typische Merkmale fest: Die Zeit wird knapp, reicht nicht mehr für Schule oder Beruf, Freunde werden rar. Wird es schlimmer, ist der Job weg, kommen Schulden hinzu, droht Wohnungsverlust. Eine Spirale, die aber laut Zeis zu durchbrechen ist: „Das ist wie beim Entzug, es müssen Ersatzangebote her, es braucht den Willen zu Veränderung – und notfalls vermitteln wir Betroffene auch in Reha-Einrichtungen für Computerspielsüchtige.“
René glaubt indes nicht, dass er einmal solche Hilfe braucht. Er hat sich Regeln gegeben: Keine Online-Rollenspiele, nur die konventionellen Games aus dem Genre. Und nach dem Spiel die CD-Rom möglichst weit wegpacken. „Bisher hat das immer funktioniert.“
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