Landeshauptstadt: Wie ein sauberes Puppenhäuschen
Igor Chernyavskiy arbeitete in einer sibirischen Goldmine – heute restauriert er Klaviere
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Hier sind sie alle gleich. An die zwanzig Klaviere drängen sich auf den zwei Räumen zusammen. Ein klassisches aus dunklem Holz neben einem ausladenden weißen Flügel auf goldfarbenen Füßen, ein flaches, aschfarbenes Piano aus den 80er Jahren neben einem verspielten Jugendstil- Instrument, auf dessen schwarz polierter Front ein Blumenmuster aus weißem Perlmutt schimmert. Wie eine stumme Familie stehen sie im Laden in der Jägerstraße, und haben den Geruch von Tabak und Wohnstuben, von kühlen Kellern, Klassenzimmern und weiten Bühnen mitgebracht. Igor Chernyavskiy kennt ihre Geschichten genau. Das kleine Klavier hier vorne zum Beispiel, erzählt der Klavierrestaurator, das hat ein Klavierbauer für sein Kind angefertigt. 1886 war das. Es reicht seinem Nachbarn gerade mal bis unter die Tasten. Chernyavskiy holt ein Foto hervor: „So sah es vorher aus“, erklärt er. Auf dem Foto ist ein schiefer Kasten aus schimmligem und verstaubtem Holz zu sehen.
Seit drei Monaten ist Chernyavskiy der Geschäftsführer des Klavierladens und der zugehörigen Werkstatt in der Eisenhartstraße. Es sei die einzige Werkstatt in Brandenburg, erklärt der 45-Jährige hinter seinem wuchtigen Schreibtisch in dem winzigen Büro im Hinterteil des Ladens. Die Berliner Hochschule für Musik gehört zu seinen Kunden und auch Modell Nadja Auermann mietet ein Instrument bei ihm. Kaufinteressenten kämen zum Teil sogar aus Süddeutschland nach Potsdam.
Vor nicht einmal zwei Jahren hat Chernyavskiy beim vorigen Chef Andreas Vollbrecht als Teilzeitkraft angefangen. Da war der gebürtige Ukrainer gerade drei Jahre in Potsdam. 2003 zog er aus Sibirien nach Brandenburg – der Liebe wegen. „Eine lange Geschichte“, sagt Chernyavskiy abwinkend. Seine heutige Frau ist wie er in Odessa geboren. An die ersten Eindrücke von Potsdam erinnert er sich noch gut: „Es ist alles so klein und künstlich wie ein sauberes, schönes Puppenhäuschen.“
Diese Einschätzung ist kaum verwunderlich, wenn der drahtige Mann erst einmal beginnt, aus seinem Leben zu erzählen: Vor dem Zusammenbruch der UdSSR war er Posaunist am Theater von Magadan, 14 000 Kilometer entfernt von Potsdam. Dort im Nordosten von Sibirien ist er aufgewachsen. Die örtliche Kulturszene, sagt Chernyavskiy, war vergleichsweise gut entwickelt: Denn Stalin hatte in den 40er und 50er Jahren viele Künstler dorthin in Straflager gesteckt. Dass das amerikanische Alaska näher lag als Europa, merkte Chernyavskiy spätestens in den 90er Jahren: Denn die Amerikaner kamen nach Sibirien – Geschäftsleute, aber auch Kirchenleute, erinnert sich Chernyavskiy. Plötzlich waren ihm seine Englischkenntnisse aus einer Spezialschule sehr nützlich: Hatte er eben noch von gelegentlichen Instrumentenreparaturen und Auftritten in Restaurants gelebt, fand er nun Anstellung als Dolmetscher, war eine Zeitlang an einem geologischen Institut in Alaska. Von 1993 bis 1997 arbeitete er dann in einer sibirischen Goldmine. Er übersetzte, heuerte Arbeiter an, kümmerte sich um Wetterstation und Radioanlage – ein Telefon gab es in der Eiswüste nicht. Bis zu Minus 50 Grad kalt wurde es im Winter. Die 800 Kilometer nach Magadan – der nächsten Stadt – ging es sowieso nur per Helikopter.
Irgendwann wurde er der Arbeit dort aber müde. „Das Geschäftsleben ist sehr aggressiv“, erzählt Chernyavskiy. Außerdem waren seine Freunde fast alle aus Sibirien weggezogen: „Sie leben in Moskau, Kanada, Israel “ Chernyavskiy jobbte hier und da, lebte in den USA und in Moskau, in Moldawien und am Schwarzen Meer in Odessa, wo er geboren wurde. Und dann gab es da eben diese Frau, die nach Potsdam gegangen war. Im September 2003 kam Igor Chernyavskiy nach Brandenburg.
„Alles, was passiert, muss passieren“, sagt der Klavierrestaurator rückblickend. Mit dem Laden in der Jägerstraße sei er „sehr zufrieden“. Beim Schritt in die Selbständigkeit hat ihn Julia Lexow-Kapp vom Lotsendienst für Migranten unterstützt (siehe Kasten). Nur die sibirische Wildnis fehlt ihm heute manchmal: „Ich vermisse ein bisschen die Natur.“ In Magadan war man in einer halben Stunde zu Fuß schon aus der Stadt und konnte Grizzlys, Wölfen oder Braunbären begegnen, erinnert sich Chernyavskiy.
Plötzlich fängt ein Klavier an zu spielen und schmettert den hektischen Hummelflug von Rimski-Korsakoff. Chernyavskiy lächelt und zieht sein Handy aus der Tasche. Kundschaft. Jan Haase
Jan Haase
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