Landeshauptstadt: Wie mein Vater die BNN-Klinge erfand
1963 bekam die Bezirksdruckerei eine neue Hochdruck-Rotationsmaschine. Die MV sollte endlich größer sein als die BNN
Stand:
Der Defa-Film „Karbid und Sauerampfer“ feierte Premiere. Margot Honecker wurde Volksbildungsministerin. Der wieder aufgebaute Zwinger in Dresden wurde eröffnet. Und auch für meinen Vater, Reiner Klix, sollte das Jahr 1963 ein ganz besonderes werden: Zum „Aufbau der sozialistischen Presse“ wurde er vom „VEB Lokomotivbau Karl Marx“ zum „VEB Bezirksdruckerei Märkische Volksstimme“ delegiert. Für einen 27-jährigen Maschinenschlosser damals ein toller Aufstieg. Er half bei der Installation der neuen „Hochdruckmaschine“ vom Plauener Druckmaschinenwerk, und als sie stand, gab es nur wenige, die sich damit so gut auskannten wie mein Vater.
Reiner Klix wurde Hauptmechaniker und hatte dafür zu sorgen, dass die neue Maschine mit ihren vier Aggregaten zuverlässig ihren Dienst verrichtete. Falls sie nachts streikte, was gelegentlich passierte, wurde er aus dem Bett geklingelt und mit dem Werksauto in die Druckerei geholt. Vor einigen Jahren hat er mir von der Sache mit der Rasierklinge erzählt. Bis dahin hatte ich nicht gewusst, wie sehr mein Vater mit der Geschichte der Brandenburgischen Neuesten Nachrichten verbandelt war.
Zeitungslizenzen wurden in der DDR nur an Parteien und Massenorganisationen vergeben. Die Märkische Volksstimme war das Potsdamer „Bezirksorgan“ der SED. Auch die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) durfte als Blockpartei eine Handvoll Zeitungen halten, eine davon war die „Brandenburgische Neueste Nachrichten“. Sie wurde bis zur Wende in der Bezirksdruckerei gedruckt, bis zum Jahre 1963 wie die MV im genormten „Berliner Format“: 31 mal 47 Zentimeter.
Die Zeitungen sollten mit der neuen Druckmaschine aus technischen Gründen breiter werden. Doch mein Vater erinnert sich, wie damals plötzlich eine Forderung im Raume stand: Die BNN sollte kleiner werden als die MV. Der Führungsanspruch der Sozialistischen Einheitspartei sollte sich auch in den Zeitungsformaten widerspiegeln.
Keine einfache Aufgabe: Die neue Rotationsmaschine ließ den Druck kleinerer Formate gar nicht nicht zu. Die aus Finnland gelieferten Papierrollen hatten eine feste Breite, die sich in der auseinandergefalteten Zeitung wiederfand.
Gemeinsam mit dem Drucker Alfred Schulz hat mein Vater nach einer Lösung gesucht. Facharbeiter der DDR waren im Improvisieren geübt: Kurz hinter dem Einzug der Papierrolle wurde ein kleiner Hebel fixiert, an dessen Ende eine Rasierklinge verschraubt. Nach Inbetriebnahme der Druckmaschine wurde die Klinge in die laufende Papierbahn geklappt.
Von der Rolle wurde ein fünf Zentimeter breiter Streifen abgetrennt. „Es sollte wegen des Materialabfalls nicht zu viel sein“, wie mein Vater mir erzählte. Wenn zwei Stunden nach der BNN Andruck für die MV war, musste der Hebel schlicht hochgeklappt werden. Das Ergebnis: Die MV war 36 Zentimeter breit, die BNN blieb 31 Zentimeter breit. Selten hat eine Rasierklinge eine solche Bedeutung für die Presselandschaft entfaltet.
Erstaunt waren die beiden Erfinder, wie lange die Klingen durchhielten. „Wir dachten, die müssen alle paar Minuten gewechselt werden.“ Durch die Reibung der Papierbahn wurden die Klingen aber von selbst geschärft und hielten viele Wochen, bevor sie wegen der Materialabnutzung ausgetauscht werden mussten.
Mein Vater und Alfred Schulz reichten ihre Erfindung als Neuerervorschlag ein. Wie das in solchen Fällen üblich war, bekamen sie eine Prämie. Die Höhe weiß mein Vater zwar nicht mehr. Er erinnert sich aber an die große Freude, da es doch deutlich mehr war, als man für einen solchen Neuerervorschlag gemeinhin bekam. „Das wurde wohl auch politisch gewertet“, meint er heute. Werner Ackermann, Druckerlegende bei der Volksstimme, hat mir die Geschichte bestätigt: „Das mit der Breite war eine parteiliche Vorgabe, und der Reiner, der hat das mit der Klinge gelöst.“ Bis zur Wende hat sie die BNN gestutzt.
Bis 1972 hat mein Vater im Druckhaus der Volksstimme gearbeitet, dort meine Mutter kennen gelernt, seinen Meister gemacht und ein berufsbegleitendes Ingenieurstudium abgeschlossen. Mit einer Rasierklinge hat er in diesen Jahren BNN-Geschichte geschrieben.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: