
© Andreas Klaer
Von Guido Berg: Wieder dran
Unfall an der Kreissäge: Guido Neumann schnitt sich zwei Finger ab. Am Bergmann-Klinikum wurden sie replantiert
Stand:
Guido Neumann versteht es bis heute nicht. Das, was passiert ist, das geht eigentlich gar nicht. Aber irgendwie muss es ja dann doch
Es ist das erste Maiwochenende. Der Gerüstbauer arbeitet auf seinem Grundstück in Satzkorn. Er will an jenem Sonnabend eine Holzhütte aufbauen; der 45-Jährige schneidet Bretter zurecht, mit einer Kreissäge. Er hat keine Erinnerung daran, wie seine Finger an das Sägeblatt kommen konnten. Eigentlich geht das ja auch gar nicht
Es geht schnell. Der kleine Finger der rechten Hand ist sofort durchtrennt, die Kuppe des Mittelfingers so gut wie. Dünne Hautfetzen halten ihn noch an der Hand. Doch, an einen Gedanken, der ihm durch den Kopf ging, kann sich Guido Neumann noch erinnern: „Die Finger sind ab, das wird nicht mehr.“
Seine Frau ruft den Notarzt. Binnen einer Stunde ist der Familienvater in einem der zwölf Operationssäle des Potsdamer Klinikums „Ernst von Bergmann“. Während Guido Neumann noch im Rettungswagen sitzt, der mit Blaulicht dem Stadtzentrum entgegenrast, macht sich im Klinikum ein Team um Dr. Mojtaba Ghods bereit, das Werk der Kreissäge rückgängig zu machen. Ghods ist Chefarzt der Klinik für plastische, ästhetische und rekonstruktive Mikrochirurgie. Neumann hat Glück, Dr. Ghods, eine Kapazität auf dem Gebiet der Wiederherstellung der Körperkonturen nach Unfällen oder Tumoren, ist erst seit acht Monaten am Klinikum. Im Mai des Vorjahres hätte es der Handwerker samt seiner beiden Finger noch rechtzeitig bis ins Unfallkrankenhaus Marzahn schaffen müssen, um auch künftig richtig zugreifen zu können.
Der 44-jährige Chefarzt hat viel vor: In Halle nähte er nahezu wöchentlich Finger oder auch andere Körperteile an. In Potsdam waren es bisher lediglich ein paar Fingerkuppen. Doch er will am Bergmann-Klinikum ein Zentrum für Handchirurgie aufbauen, neue Ärzte wurden bereits eingestellt. Es steht an jenem 2. Mai 2009 alles bereit für Guido Neumann. Alles, was der Mann aus Satzkorn für eine erfolgreiche Operation mitbringen musste, ist sein kleiner Finger.
Geistesgegenwärtig wickelte Neumann die verletzte Hand in ein Tuch. Und auch den kleinen Finger vergisst er nicht: „Ich muss ihn selbst mitgenommen haben.“ Abgetrennte Gliedmaßen sollten mit einem sauberen Tuch umwickelt und dann in einen Plastikbeutel gelegt werden. Idealerweise kommt dieser Beutel noch in eine weitere Tüte, in dem sich Wasser und Eiswürfel befinden. Auf keinen Fall, sagt Dr. Mojtaba Ghods, sollte das Replantat direkt mit Eis in Berührung kommen.
Ein Team aus zwei Anästhesisten, drei OP-Schwestern und drei plastischen Chirurgen nähen die Finger Neumanns wieder an. Acht Stunden dauert die Operation. Dr. Ghods hat auch schon 20-stündige OPs erlebt. Es ist nur ein kleiner Finger, doch damit wieder zusammenwächst, was zusammen gehört, bedarf es höchster Konzentration, starker Nerven und Fingerspitzengefühl. „Ich rauche nicht, ich trinke nicht“, sagt Ghods: „Ich darf keinen schlechten Tag haben.“ Die Alarmierung für eine Gliedmaßen-Replantation kommt unvermittelt; Ghods hat keine Zeit, sich auf den Kraftakt einer stundenlange Operation vorzubereiten. Er muss immer vorbereitet sein.
Bis spätestens sechs bis acht Stunden nach der Abtrennung sollte wieder Blut durch das abgetrennten Körperteil fließen, „sonst wird es schwarz“. Ghods fixiert zunächst die beiden Fingerknochen mittels Draht aneinander. Dann werden die Arterien für den Blutzufluss zusammengenäht. Es folgen die Venen für den Blutabfluss, dann Sehnen, Nerven, zuletzt die Haut.
Der Mittelfinger von Guido Neumann ist schon fast wieder in Ordnung, der kleine Finger ist noch etwas taub. Das liegt an den Nerven, sie wachsen einen Millimeter pro Tag aus der Hand in den angenähten Finger nach. Der nachwachsende Nerv nutzt dazu den vorhandenen Nervenkanal, der alte Nerv zersetzt sich.
Dr. Ghods sagt, mit klassischen Schönheitsoperationen sei viel mehr zu verdienen. Doch er hat anderes vor. Er will in Potsdam ein Zentrum für Replantation aufbauen, er will eines Tages große Operationen durchführen zur vollständigen Wiederherstellung des Körpers nach schwersten Verletzungen. Ein Anfang ist gemacht, mit Neumanns kleinem Finger.
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