Landeshauptstadt: Wiederkehr eines Virus
Trotz Kinderlähmung lernte Elke Müller laufen. Das Post-Polio-Syndrom zwingt sie nun in den Rollstuhl
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Trotz Kinderlähmung lernte Elke Müller laufen. Das Post-Polio-Syndrom zwingt sie nun in den Rollstuhl Landsberg an der Warthe, 1943: Der dreijährigen Elke Müller geht es nicht gut. „Es fing an wie eine Erkältung“, sagt sie heute im Rückblick, da sie weiß, dass das, was damals begann, für sie Zeitlebens nicht zu Ende gehen wird. Eine Woche lang erkennen die Ärzte nicht, was es ist. Elke Müller wird schwächer, Lähmungen treten auf. Dann die Diagnose: Poliomyelitis, Kinderlähmung. Sechs Wochen verbringt das Mädchen auf der Isolierstation, inzwischen völlig gelähmt. Die akute Phase der Krankheit überlebt sie, eine neue Bedrohung zieht indes heran, der Krieg. Die Familie flieht nach Westen, mehrfach gerät sie zwischen die Fronten. „Meine Mutter hat mich geschleppt, gezogen, getragen“. Sie selbst kann nicht laufen, sie lernt es erst mit sechs Jahren, im Potsdamer Oberlinhaus, mit Schienen an den Beinen. Diese Hilfsmittel ermöglichen es ihr, auch ohne Rollstuhl auszukommen. „Gut laufen konnte ich nie, aber ich empfand es als gut“, sagt sie milde lächelnd. Ihre Mutter erlernte den Beruf der Masseurin, um der Tochter zu helfen. Polio-Viren befallen Teile des Rückenmarks und schädigen sie. Andere Nervenstränge übernehmen die Funktion der abgetöteten Bahnen, eine physiotherapeutische Behandlung vorausgesetzt. „Trainieren, trainieren, trainieren“, das war die Devise. Elke Müller gelingt trotz der Krankheit ein erfülltes Leben. Auch weil sie zu DDR-Zeiten regelmäßig zur Kur fahren kann, nach Wiesenbad im Erzgebirge. Bei der Defa wird Elke Müller Filmzeichnerin, von 1958 bis 1994 arbeitet sie in Babelsberg, zeichnet den Vorspann solcher Filme wie „Die Legende von Paul und Paula“ und „Effi Briest“. Und sie lernt ihren Mann kennen, bekommt zwei Kinder, später zwei Enkel. 1960 ließ sie sich gegen Polio impfen, man kann die Krankheit mehrmals bekommen. Der heutige 28. Oktober ist Welt-Polio-Tag, heute wäre Jonas Salk (1914-1995) 90 Jahre alt geworden, der Biologe, der den ersten Impfstoff gegen Polio entwickelte. Anfang der 90er Jahre klagen Betroffene in der Potsdamer Polio-Selbsthilfegruppe immer öfter über Müdigkeit, Erschöpfung, Schmerzen. Keiner weiß, was los ist. Auch Elke Müller merkt, „es änderte sich was“. Die Ärzte vermuten Altersbeschwerden, aber ist das die Erklärung für dieses Kältegefühl, diese abnormen Erschöpfungszustände? Gerhard Meyendorf, der Ansprechpartner des Bundesverbandes Polio e.V. in Potsdam, brachte den nüchternen, durch US-Forscher geprägten Begriff mit in die Gruppe: Post-Polio-Syndrom. „Die Nervenbahnen, die die Funktion der zerstörten übernommen haben, geben ihren Dienst auf“, erklärt er. In der Forschung werden auch ein Fortbestehen des Polio-Virus in den Nervenschaltzellen (Ganglien) oder Autoimmunphänomene als Ursache diskutiert. Elke Müller wohnt im Erdgeschoss, vor dem Eingang steht ein Häuschen und darin ihr Rollstuhl. Ohne den kommt sie nun außerhalb ihrer Wohnung nicht mehr aus. Die Ärzte hören sich ihre Geschichte „mit großen Augen“ an, ihrer Hausärztin bringt sie Literatur mit, „sie ist sehr interessiert“, erkennt sie an, obwohl Elke Müller weiß, dass Polio „eine aussterbende Krankheit“ ist, über die sich kaum ein Arzt fortbilden wolle. Doch häufiger bringen Reisende Polio mit nach Europa. Häufiger glauben Eltern, dass sie ihre Kinder nicht impfen müssen, weil die Krankheit ausgerottet ist. Sie ist es aber nur fast. Guido Berg
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