
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: „Wir Juden sind stinknormal“
Ein kritisches, selbstkritisches und auch heiteres Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November 1938
Stand:
Innenstadt - Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) erneuerte seine Forderung nach einem Verbot der rechtsextremen NPD. „Dass die NPD mit Steuermitteln am Leben erhalten wird, will ich nicht verstehen“, erklärte Jakobs vor weit über 100 Teilnehmern einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 74. Jahrestages der judenfeindlichen Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Am Standort der ehemaligen Potsdamer Synagoge neben der Hauptpost erklärte der Oberbürgermeister: „Nur die gelebte Toleranz gebiert das Freiheitsrecht.“ Ferner kritisierte Jakobs die deutschen Verfassungsschutzorgane und die Polizei, die die zehnjährige Mordserie der rechtsextremen Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) nicht stoppen konnten.
Mit dem Verbrechen der Pogromnacht, als die Synagogen in Deutschland in Brand gesetzt und geschändet wurden, als Hunderte jüdische Bürger ermordet wurden, habe sich das Regime entlarvt, sagte Jakobs: „Offen, ungesetzlich und bar jeden Gewissens“ habe die Vernichtung einer ganzen Bevölkerungsgruppe ihren Anfang genommen – „nur weil sie Juden waren“. Mit dem 9. November 1938 habe für die Juden „die Hölle auf Erden“ begonnen. Der kollektive Tod von sechs Millionen Juden in den Gaskammern war „ein Verbrechen, wie es die Völker und Staaten vorher nie erlebt hatten“, so der Oberbürgermeister. Nicht akzeptieren könne er es, wenn heute Lebende sagen, sie hätten mit dem Holocaust nichts zu tun. Jakobs: „Es ist unsere gemeinsame Geschichte, aus der niemand aussteigen kann.“
Auch Michail Tkach von der Jüdischen Gemeinde Potsdam stellte fest, am 9. November 1938 „begann der Weg in den Holocaust“. Er erinnerte daran, dass die Geheime Staatspolizei bereits am 17. August 1935 die deutschen Juden regional und lokal erfasst und „eine reichsweite Judenkarte“ erstellt habe. Explizit würdigte Tkach die als „Gerechte unter den Völkern“ geehrte Potsdamerin Carola Müller, für die am Freitag eine Gedenktafel enthüllt wurde. Diese mutige Frau sei „ein Symbol höchsten Anstands und Heldentums“; ihr Name werde künftig an jedem 9. November genannt.
Für einen unverkrampften Umgang zwischen Juden und Nichtjuden warb Ud Joffe von der Synagogengemeinde. Mehrmals gelang es ihm, die Stimmung aufzuheitern. Joffe erklärte: 1932 hätte kein Jude in Deutschland geglaubt, dass sechs Jahre später die Synagogen brennen. Auch jetzt könne sich in Potsdam niemand vorstellen, dass in sechs Jahren die Synagoge brennt. „Weil es keine gibt?“, fragte Joffe lächelnd und versicherte, dass es mit Sicherheit in sechs Jahren in Potsdam eine Synagoge geben werde.
„Wir Juden sind sowas von stinknormal“, erklärte Joffe weiter. Juden hätten ebenso Freude, Sorgen und Auseinandersetzungen wie andere Menschen auch. Die Debatte unter den jüdischen Gemeinden um die neue Potsdamer Synagoge sei schlicht ein „Ausdruck der Freiheit“. Joffe: „Die Mehrheitsgesellschaft darf sich freuen, dass wir Juden keine Bedenken mehr haben, uns normal zu verhalten.“
Nach einem Umzug der Gedenkenden an den Standort der künftigen neuen Potsdamer Synagoge an der Schloßstraße 1 ging Stadtkirchenpfarrer Simon Kuntze mit den christlichen Kirchen hart ins Gericht. Er zitierte den evangelischen Theologen Helmut Gollwitzer, der eine Woche nach dem November-Pogrom 1938 fragte: „Was hat das Predigen genutzt?“ Dazu erklärte Kuntze: „Nichts, wenn die Kirche schweigt.“ Kuntze kritisierte den damaligen Oberkirchenrat und späteren bayrischen Bischof Hans Meiser, der 1926 „ein Zurückdrängen des jüdischen Geistes gefordert hat“. Viele Christen hätten in der NS-Zeit „ihrem Gott nicht zugehört“, so Kuntze. Heute habe die Evangelische Kirche gelernt, „dass Luthers Antisemitismus nicht Gottes Wort, sondern Teufels Beitrag war“.Guido Berg
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: