zum Hauptinhalt

Grundbildungszentrum in Potsdam: Wo funktionale Analphabeten Wörter entziffern lernen

Am Grundbildungszentrum der Potsdamer Volkshochschule lernen „funktionale Analphabeten“ in individuellen Programmen das Lesen und Schreiben. 40 bis 50 Erwachsene haben das Programm bereits durchlaufen.

Stand:

Potsdam - Der große Druck ist weg. Ute, 54 Jahre alt, verteilt am „Alfa-Mobil“ vor dem Brandenburger Tor Zettel mit der Info, wo erwachsene Analphabeten in Potsdam das Lesen und Schreiben lernen können. Vor wenigen Jahren noch bekam Ute selbst schriftlich nur ihre Adresse hin. Dann kam der Wendepunkt: Zwei Jahre lang übte sie in einem Kurs, erst Buchstaben, dann Wörter zu entziffern und selbst abzubilden. Jetzt, in einem Folgekurs an der Volkshochschule im Berliner Bezirk Neukölln, will sie sich von Level drei auf Level vier hocharbeiten: „Ich mache noch zu viele Rechtschreibfehler“, gesteht sie, stolz darauf, dass sie nach Potsdam gefahren ist: „Früher bin ich meistens in meinem Stadtviertel geblieben.“

Seit einem Jahr bietet auch das neue, aus Landesmitteln finanzierte „Grundbildungszentrum“ an der Volkshochschule in Potsdam Kurse für sogenannte funktionale Analphabeten an. Immer noch herrsche die Meinung vor, Analphabeten könnten gar nicht lesen oder schreiben. „Das sind aber nur ganz wenige in Deutschland“, betont Projektleiterin Katrin Wartenberg, ebenfalls am Stand des „Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung“: „Die meisten können Buchstaben und Wörter schreiben.“ Die Zielgruppe, an die sich die sieben im vergangenen Jahr in Brandenburg eingerichteten Grundbildungszentren richten, sei viel größer: „Wir sprechen deshalb von Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten.“ Im Kindes- und Jugendalter können diese bereits als Lese- und Rechtschreibschwäche LRS auftreten – eine mögliche Vorstufe des späteren funktionalen Analphabetismus.

Die Biographie einer funktionalen Analphabetin

Ute etwa wurde als Kind nicht gefördert. Sie war eines von neun Kindern, der Vater Alkoholiker, und auf der Sonderschule, wie sie sagt, setzte die Lehrerin sie ganz nach hinten. Das, was sie konnte, habe sie später verlernt. „Das war die Hölle“, erinnert sie sich. „Arbeiten gehen, Haushalt, Kinder und jahrelang angespannt sein, sobald Papiere mit der Post kamen.“ Ihre Schwester half, die Familie und selbst der Arbeitgeber in der Stuttgarter Großkantine wusste Bescheid: „Er gab mir Arbeiten, die nichts mit Schreiben zu tun hatten, zum Beispiel die Kaffeemaschine bedienen und in der Küche helfen.“ Dann aber zog sie nach Berlin und landete in einer kleinen Kantine: „Die Kollegin mobbte mich, als sie merkte, dass ich nicht schreiben kann. Ich ließ mich kündigen und kam zum Jobcenter. Da habe ich mich endlich offenbart nach so vielen Jahren.“

Die Stadt Potsdam biete bereits seit den 1990er-Jahren Lese- und Schreibkurse an, erzählt Katrin Wartenberg. Seit jedoch eine Hamburger Studie 2011 die hohe Zahl von bundesweit 7,5 Millionen Analphabeten bekannt machte, gebe es bundesweit neue Fördermaßnahmen. Neben dem Lese-Schreib-Kurs, der in Potsdam zweimal wöchentlich von bis zu acht angemeldeten Teilnehmern besucht werden kann, biete das Grundbildungszentrum offene Lerncafés an. Hier kann man kostenlos Deutsch und PC oder Mathematik pauken. „Der Schritt, das anzunehmen, ist groß“, sagt Wartenberg. „Aber wenn die Leute erst einmal sehen, dass es noch andere funktionale Analphabeten gibt, sind sie erleichtert.“

Mit Hilfe eines Einstufungstests wird festgestellt, welche Hilfe jemand benötigt und ein individuelles Programm für zunächst einmal drei Monate aufgestellt – auf Papier oder am Computer. 40 bis 50 Erwachsene hätten das Angebot bislang durchlaufen. „Sie wollen endlich ihren Enkeln vorlesen, eine Ausbildung oder die Führerscheinprüfung machen – und sich nicht mehr ausgeschlossen fühlen.“

Isabel Fannrich-Lautenschläger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })