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Landeshauptstadt: Wo ist die dritte Bombe?

Horst Künzel, Forscher ohne Doktor, überlebte im Einsteinturm den Luftangriff auf Potsdam

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Horst Künzel, Forscher ohne Doktor, überlebte im Einsteinturm den Luftangriff auf Potsdam Von Guido Berg Horst Künzel ist vor 83 Jahren in der Babelsberger Dieselstraße mit der Hausnummer 13 geboren. Es ist das Haus seiner Eltern, er lebt heute noch dort und es gab in seinem Leben wenig Anlass, abergläubisch zu werden. Mehrmals hätte ihn der Tod im Gewand des zweiten Weltkrieges erwischen können – nie gelang es ihm. Aber auch in Friedenszeiten leuchtete über seinem Leben ein guter Stern – die Sonne. Horst Künzel wurde Wissenschaftler, er erforschte die Sonne und er führte die noch heute gültige Delta-Konfiguration für Sonnenflecken ein – für jemanden, der nie an einer Universität studiert oder promoviert hat, ist das eine absolute Ausnahmeleistung. Das Mittel seiner Sonnenbeobachtungen war jahrzehntelang das Teleskop im Einsteinturm. Das Abbild, das das Instrument von der Sonne produziert, hat einen Durchmesser von 13 Zentimetern. Da ist sie wieder, die Zahl 13. Aber von Pech keine Spur. Horst Künzel steht auf einer kleinen Leiter und deckt die in der Herbstsonne leuchtenden Weintrauben an der Hofseite des Hauses mit Gardinen ab. Wegen der Vögel. Er führt in die Wohnung im Erdgeschoss, in der guten Stube steht das Sofa mit dem Rücken zum Fenster. Gegenüber steht ein Neubau. Künzel setzt sich und erzählt. Die Autoren in der Schrankwand heißen Balzac, Fontane, Jähn („Erlebnis Raumfahrt“), Haffner („Geschichte eines Deutschen“). Am Astrophysikalischen Observatorium in Potsdam lernt Horts Künzel ab 1937 den Beruf des Feinmechanikers. Sein Metier ist der Bau wissenschaftlicher Geräte, mit ihnen zu experimentieren obliegt den studierten Forschern. 1941 wird er zur Armee eingezogen, zur Luftwaffe. Das bedeutet in den Krieg zu ziehen in diesen Jahren. Er soll Funker werden beim fliegenden Personal. Er besucht die Bordfunkerschule. In jenen Tagen beginnt die Schlacht um Moskau – mit großen Verlusten der deutschen Luftwaffe. Allein vom 22. Juni 1941 bis zum 19. Juli 1941 verliert sie 1284 Flugzeuge. Viele Piloten und Bordfunker sterben. Horst Künzel zieht ein anderes Los: Der junge Funker schafft die hohe Morse-Geschwindigkeit nicht. Es droht die Versetzung zur Bodentruppe. Da kommt eine Personal-Anforderung aus Mecklenburg, vom Versuchsfliegerhorst in Rechlin. Hier betreibt die Luftwaffe kriegsrelevante Forschung. Es wird eine Forschungskompanie für die Physik der Sonne aufgestellt. Kompaniechef ist Walter Grotrian, ein hochangesehener Wissenschaftler vom Astrophysikalischen Institut. Der fragt den Abkommandierten: „Kennen wir uns nicht?“ „Jawohl, aus Potsdam.“ Grotrian versetzt Horst Künzel zum Dienst in den Einsteinturm, als Assistent von Prof. Harald von Klüber. Für Künzel ist das eine Lizenz zum Überleben: „Damit war der Krieg für mich zu Ende.“ Künzel trägt Uniform, wohnt aber im Haus seiner Eltern, Dieselstraße 13. Einziger Wermutstropfen: In der Straßenbahn wird der junge Mann schief angesehen, weil er nicht an der Front ist. Künzel fährt häufig mit dem Fahrrad zum Dienst. Mit dem Einsteinturm-Teleskop lernt er eigenständig Beobachtungen vorzunehmen, er zeichnet und fotografiert Sonnenflecken, lernt die Grundlagen der Optik. Von Klüber und er sonnen sich in dem Gedanken, diese oder jene Erscheinung auf dem Zentralgestirn „hat kein anderer auf der Welt beobachtet“. Bei ihrer Arbeit geht es um die Beeinflussung des Funkverkehrs durch Sonnenaktivitäten. Sie betreiben Grundlagenforschung, der Krieg ist anderswo. Noch. Am 14. April 1945 hat Künzel Nachtwach-Dienst in einer Holzbaracke links vom Einsteinturm. Es gibt Fliegeralarm. Im Rundfunk heißt es: Feindliche Verbände im Anflug auf Berlin. Wie so oft. Dann hört er Brummgeräusche und er fragt sich: „Wo gehste hin?“ Er rennt in das Kellerlabor des Sonnenobservatoriums, über ihm ist der Einsteinturm, die sicherste Stelle, wie er hofft. Erste Detonationen. Immer drei hintereinander. Wumm. Wumm. Wumm. Drei Bomben wirft ein Flugzeug ab. Aufatmen nach jeder dritten Explosion. Plötzlich hört er ein lautes „Gurgeln“. Das ist was anderes, „ich ahnte was Schreckliches“. Eine normale Bombe fällt glatt, fast geräuschlos. Die 20-Zentner-Luftmine dagegen trudelt. Eine gewaltige Explosion erschüttert den Telegrafenberg, „es hat entsetzlich gerummst“. Die Holzbaracke, in der er eben noch saß, wird weggerissen. Der Einschlag erfolgt zwischen Einsteinturm und Großem Refraktor. Die Luftmine ist dünnwandig, es geht nicht um Splitterwirkung, sondern um Druckentfaltung nach oben. Die Refraktorkuppel oberhalb hat eine Riesen-Delle nach innen. Die eigentliche Zerstörung entsteht durch die Saugwirkung der zum Explosionsort nachströmenden Luft. An Bibliothek und Turm werden Mauerteile nicht eingedrückt, sondern herausgerissen. Im Keller fliegt alles umher, das Licht geht aus. Es ist dunkel. Aus einem Laborfenster an der Westseite kriecht er ins Freie. Er hat überlebt. Wäre die Mine zehn Meter näher am Turm detoniert, es hätte ihm die Lunge zerrissen. Erster Gedanke: Was ist zu Hause? Er rennt los. Die Horstbrücke über die Nuthe ist zerstört, er findet eine intakte Eisenbahnbrücke. Das Haus Dieselstraße 13 steht noch. Im Haus gegenüber klafft ein Loch im Dach. Die erste Bombe ist auf der Straße aufgeschlagen, die zweite im Garten. Wo ist die dritte Bombe? Der Krieg geht zu Ende und Horst Künzel in Kriegsgefangenschaft. Der Transportzug fährt nach Osten. Wo geht’s hin? Nach Frankfurt/Oder, sagt ein Russe. Ja wer’s glaubt Doch tatsächlich entsteigt er an der Oder dem Zug – und wird entlassen. Weil er zu dünn ist! Wieder hat er Glück gehabt, „das hätte leicht auch eine andere Weiche sein können“, eine für den Schienenstrang in die Lager nach Sibirien. Wieder zu Hause. Das Dach des Nachbarhauses ist ausgebessert, Horst Künzel arbeitet wieder im Einsteinturm. Die Sonnenforschung liegt ihm. Er kann es, er will es. Er kennt sein Teleskop. Ohne Doktortitel in der Tasche entwickelt er Messgeräte. Er entdeckt, dass an der Struktur eines Sonnenfleckes dessen Bipolarität zu erkennen ist. Bei einem Festvortrag 2002 erklärt der Sonnenforscher Prof. Wolfgang Mattig: „Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Horst Künzel in Zusammenhang mit der Bearbeitung der Fleckenfelder 1960 die magnetische Flecken-Klassifikation Delta eingeführt hat“. Die Jahrzehnte vergehen. Horst Künzel bekommt die Leibniz-Medaille, 1986 geht er in Rente. Das Astrophysikalische Institut Potsdam führt seinen Namen auf seiner Homepage unter den Ehemaligen. Nach der Wende wird das Haus gegenüber abgerissen, der Investor hat als erster ein offenes Ohr für Künzels Sorge: Irgenwo muss ja die dritte Bombe sein. Die Bauarbeiter stellen fest, dass auch der Fußboden im Erdgeschoss ausgebessert wurde, darunter befindet sich Auffüllsand – und die gesuchte 250-Kilogramm-Bombe. Intakt und scharf. Sie fiel durch das ganze Haus hindurch. Keine 30 Meter von seinem Sofa entfernt, auf der der in Ehren Ergraute jetzt von seinem Leben erzählt. 50 Jahre lang hätte es ihn jeden Tag erwischen können. Nein, sagt er, abergläubisch sei er nicht. Einem Freitag den 13. sehe er mit großer Gelassenheit entgegen.

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