Homepage: Zeit der Ernte
Der Potsdamer Astrophysiker und Bürgerrechtler Günther Rüdiger wurde gestern 65 Jahre alt
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„Jeden Tag Theorie – außer sonntags“, mit diesem Motto beschreibt der Potsdamer Astrophysiker Prof. Dr. Günther Rüdiger zugespitzt seinen Lebensablauf. Jahrzehntelang hat er die Entstehung von Sternen und Schwarzen Löchern aus rotierender Materie erforscht. Dafür gilt, vereinfacht gesagt, dass die Massenkonzentration der rotierenden Materie nur möglich ist, weil magnetische Felder in der stabilen Strömung Turbulenzen hervorrufen. Diese aus Beobachtungen und Berechnungen abgeleitete Theorie ist seit Anfang der 1990er Jahre allgemein anerkannt.
Dazu hat der 1944 in Dresden geborene Günther Rüdiger, der in Jena Astrophysik studierte und 1971 an der Akademie der Wissenschaften der DDR promoviert wurde, durch seine Forschungen beigetragen. Aufsehen erregte er mit dem im Vorjahr abgeschlossenen „Promise“-Experiment. Gemeinsam mit seinem Partner Frank Stefani vom Forschungszentrum Dresden-Rossendorf entwickelte er eine Versuchsanordnung, mit deren Hilfe im Labor erstmals die Theorie vom Einfluss der Magneto-Rotationsinstabilität auf die Sternenentstehung experimentell nachgewiesen wurde. Damit gewann das Duo den Wettlauf mit einer Forschergruppe aus dem amerikanischen Princetown. „Was jahrzehntelang gerechnet wurde, kann nun gemessen werden“, sagt Rüdiger. Er nennt das seine „Zeit der Ernte“. Die herausragende Leistung ist Ende 2008 durch den mit 50 000 Euro dotierten Preis des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft gewürdigt worden.
Seine Forschungen, deren Ergebnisse er in mehreren Büchern und einer Fülle anderer Veröffentlichungen publik gemacht hat, hatte Günther Rüdiger vor 45 Jahren begonnen. Als einer der ersten Jenaer Studenten nutzte er dafür den in der DDR neu entwickelten Rechner ZRA 1. Der konnte zehn Gleichungen mit zehn Unbekannten zugleich lösen. Heute bringen es moderne Computer auf das Milliardenfache. Zur Himmelsbeobachtung von der Erde aus ist die moderne Satellitenastronomie hinzu gekommen, deren Daten Theorien „stützen oder stürzen“ können. So hat 2007 der kanadische Satellit „Most“ eine zehn Jahre alte Vorhersage Rüdigers und seines russischen Kollegen Kitchatinov zur Rotation der Sterne bestätigt.
Dass er nach seinem 65. Geburtstag, den er gestern feierte, nun in den Ruhestand geht und im Astrophysikalischen Institut Potsdam (AIP) nunmehr Gast sein wird, macht Günther Rüdiger „nicht unbedingt glücklich“. Gern würde er die Schar der hoffungsvollen jungen Physiker, „die immer besser und besser werden“, noch länger anleiten. Auf jeden Fall wird er aber seine Forschungen am AIP weiter fortsetzen können. Und Anfang 2010 veranstaltet das Astrophysikalische Institut Potsdam ein Festkolloquium für den Jubilar. Zuwenden möchte sich Rüdiger dann auch den oft tragisch verlaufenen Biographien bedeutender Naturwissenschaftler, wofür er mit „Kepler stirbt“ bereits eine literarische Probe vorgelegt hat.
Auch ist der Astrophysiker keineswegs einseitig auf das Weltall fixiert. Schon als Student in Jena gründete er einen Filmklub, setzte dieses Hobby dann in Potsdam fort, wo er Bekanntschaft mit Regisseuren wie Simon, Gräf und Warnecke schloss. In ihren Filmen sah er die DDR-Wirklichkeit „annähernd“ erfasst. Er lernte prominente Schriftsteller kennen und organisierte Ausstellungen, so in den 1990er Jahren mit Rudolf Tschäpe zum Großen Refraktor. Der Mitbegründer des Neuen Forums war es auch, der seinen stark unter der Isolation der DDR-Wissenschaft leidenden, aber politisch bis dahin nicht aktiven Kollegen für die Bürgerbewegung gewann. Mit seiner Ehefrau Gisela zählte Rüdiger am 5. Dezember 1989 zu den Besetzern der Potsdamer Stasi-Zentrale. 1998 wurde er Stadtverordneter der SPD. Er war Mitbegründer der „Forschungsinitiative Brandenburg“.
Erst die politische Wende habe die Isolation der Akademie der Wissenschaften aufgebrochen und ihre wahren Potenzen erschlossen, blickt er zurück. Die Evaluierung 1991 hätten alle bedeutenden wissenschaftlichen Institute im Osten bestanden. Die Wissenschaft im Osten sei also nicht, wie manchmal behauptet, nach der Wende „zerschlagen“ worden. „Im Gegenteil“, so das Fazit Rüdigers. Der Physiker sieht aber durchaus auch heute Fehlentwicklungen, etwa die Schrumpfung des für Studenten so wichtigen „wissenschaftlichen Mittelbaus“ an den Universitäten oder die Möglichkeit, am Gymnasium naturwissenschaftliche Fächer einfach abwählen zu können.Erhart Hohenstein
Erhart Hohenstein
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