Von Guido Berg: Zukunft mit nassen Füßen
Im Juni 1685 verließen 101 Berner ihr Schiff, um auf der Insel Potsdam zu siedeln. Von den Anfängen Nattwerders
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1401 Kilometer sind es bis Bern. Das steht auf dem Holzschild mit vergoldeten Buchstaben, das der „Bauer“ von den Nattwerderanern zum 65. Geburtstag erhielt. Gemeint ist Emil Mauerhof, dessen Familienstammbaum in direkter Linie zurückgeht zu den „Ureinwohnern“. In jeder Hand einen Zügel, führt Mauerhof zwei gut genährte Pferde auf die Weide. Er geht vorbei an zwei Jungen, die auf der „Volksbank“ neben dem Schild sitzen und an Holzstückchen schnitzen. Warum in die Ferne schweifen, ein Stück der idyllischen Schweiz liegt so nah.
Emil Mauerhof winkt hoch zu Hans Scheffler, der auf seiner Freitreppe steht und zurückwinkt. Dem „Bauern“ ist das Medieninteresse an dem kleinen Ort an der Wublitz nicht geheuer, aber Scheffler erzählt die Geschichte seines Dorfes gern zum wiederholten Mal. Scheffler ist Wahl-Nattwerderaner aus Passion. Er kam aus Auerbach im Erzgebirge, sah und blieb, als er die Chance dazu hatte. Der Orgelbauer gehört zu den wenigen, die sich die Pendlerpauschale mit dem Ruderboot verdienen. Ein paar Züge die Wublitz entlang, über den Zernsee und schon ist er am Arbeitsplatz, bei Schuke-Orgelbau in den Werderaner Havelauen.
325-jährige Ortsjubiläen sind für gewöhnlich nichts Ungewöhnliches. Doch Nattwerders Erstbesiedlung gleicht der von San Salvador, Kuba oder Hispaniola. Die Kolonisten kamen mit dem Schiff, nur dass sie nicht Spanier, sondern Schweizer waren. 14 Familien, insgesamt 101 Neusiedler aus Bern, setzten am 16. Juni 1685 erstmals ihren Fuß auf den morastigen Boden der Insel Potsdam; am Ufer der Wublitz. Noch heute steht auf der Wetterfahne der 1690 geweihten Kirche von Nattwerder die berühmte Jahreszahl: „1685“. Die Berner kamen auf Einladung des Großen Kurfürsten; ihr Weg war eine Odyssee, er führte über den Rhein in die Nordsee und über die Elbe in die Havel. „Sie haben dadurch jede Menge Zoll gespart“, erzählt Hans Scheffler. Deutschland bestand damals aus vielen Kleinstaaten, die an ihren Grenzen abkassierten. Das Schiff hatte Friedrich Wilhelm I. zur Verfügung gestellt, der das Kolonisationsprojekt vertraglich mit dem Rat zu Bern besiegelte. Die Schweiz hatte seinerzeit viele Bauern und wenig Land, in Brandenburg waren die Verhältnisse umgekehrt, der Dreißigjährige Krieg und die Pest hatte die Mark entvölkert. Scheffler: „Hier gab es niemanden mehr, der die Arbeit macht.“
Aber sie hatten es nicht leicht. Bürger der Alpenrepublik sind es gewöhnt, dass das Wasser, das vom Himmel fällt, von allein abfließt. Nichts so im Sumpfgebiet ihrer neuen Heimat, der Name „Nattwerder“ deutet auf die Probleme der Kolonisten hin. Führte das Havel Hochwasser, mussten sie ihre Kühe mit dem Flaschenzug aus dem Sumpf ziehen. So beim „Jahrhunderthochwasser“ von 1687, als die Schweizer ihre erste Siedlung im Luch aufgaben, und auf einen kaum merklichen Sandhügel zogen, der den Namen „Vierhäuser“ bekam. Die vier Häuser, nicht mehr Original, aber an gleicher Stelle, prägen heute noch das Dorf. Eines bewohnt Emil Mauerhof und seine Familie und eines Hans Scheffler.
Die Besiedlung war „keine Einbahnstraße“, berichtet der 47-Jährige. Einige Siedler gingen wieder zurück nach Bern, andere blieben. Immerhin gab der Kurfürst ihnen Privilegien, die Abgabenfreiheit der Schweizer sorgte auch für Neider. 1867 trifft die Nattwerderaner ein schwerer Schlag in Gestalt eines Blitzes. Der Ort brennt komplett ab, bis auf die Kirche und das Pfarrhaus. Scheffler zeigt eine verkohltes Brett aus dieser Zeit. Holz war knapp, daher wurde es beim Neuaufbau wiederverwendet. Zwar gilt es als schlechtes Omen, angebranntes Holz zu verbauen, doch „auf irgendwelche Omen zu achten konnten sie sich nicht leisten“. Und es hatte auch etwas Gutes: „In so ein Holz geht kein Wurm rein“, weiß Scheffler.
Auf dem Friedhof bei der Kirche zeigt Scheffler auf die Grabsteine einer Familie, „die das Pech angezogen hat“. Es war ihr Haus, in das 1867 der Blitz eingeschlagen war. Drei Jungs der Familie starben Jahrzehnte später tragisch, einer kam bei einem Unfall ums Leben, die anderen beiden ertranken, weil sie im Eis der Wublitz einbrachen. Warme Faulgase steigen vom Wublitzgrund auf und sorgen für dünne Stellen im Eis. Von den Einheimischen, sagt Scheffler, „geht niemand mehr auf das Eis der Wublitz“.
1985, zur 300-Jahrfeier, haben die Nattwerderaner begonnen, den Friedhof zu entkrauten. „Er war völliger Urwald“, sagt Scheffler. Allen voran die Gärtnerin Annemarie Haardt, die 2008 verstarb. Die Baugerüste, die sie zur Sanierung der Kirche verwendeten, wurden am Samstagabend auf- und Sonntagabend wieder abgebaut, weil sie in der Woche woanders gebraucht wurden. Gerda, die Frau von Emil Mauerhof, „hat für 17 Leute gekocht“, erinnert sich Hans Scheffler. Allein die Orgel in Nattwerders Kirche spiegelt ein Großteil der europäischen Geschichte wider: 1797 eingebaut wurde sie 1806 von Napoleonischen Truppen verwüstet. 1917 fielen die Metallteile der Munitionsherstellung zum Opfer. Die Holzteile nutzten die Russen nach 1945 als Brennholz. Ohne Fördermittel brachten die 35 heutigen Nattwerderaner die 150000 DM für die 1996 geweihte neue Schuke-Orgel zusammen. Scheffler – „Ich bekleide das Amt des Domorganisten“ – setzt sich an das herrliche 500-Pfeifen-Instrument und spielt die „legendäre Nattwerderaner Tauf- und Trausonate“. Weil der Klang so extravagant ist, setzen sich zu den Sommerkonzerten Künstler an die Orgel, die sonst im Gewandhaus spielen.
Im Juni nun werden alle diese Geschichten wieder erzählt, wenn Nattwerder seinen 325. feiert. Der Schweizer Botschafter ist eingeladen, wenn er kommt, dann wohl mit dem Auto.
Nicht mehr mit dem Schiff.
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