
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: Zum Aushalten
Gedenkstätte Leistikowstraße: Schüler lasen aus den Erinnerungen ehemaliger Häftlinge
Stand:
Es riecht schon herbstlich, die abendliche Kühle schwappt in die Stadt in der beginnenden Dämmerung. Hannes Lefherz steht mit ein paar Freunden vor der Gedenkstätte in der Leistikowstraße und zündet sich vor der Silhouette perfekter Natur eine selbstgedrehte Zigarette an. Eben hat er im nüchtern grauen Saal gemeinsam mit vier Mitschülern eine szenische Lesung gestaltet. Es war anstrengend, für Sprecher und Zuhörer. Und es gab am Ende viel Applaus.
Unter der Überschrift „Ich schätze das Leben, jedes bisschen...“ lasen die Zwölftklässler des Evangelischen Gymnasiums Hermannswerder Aufzeichnungen von fünf ehemaligen Häftlingen des einstigen sowjetischen Untersuchungsgefängnisses. Wie durch ein Hörspiel tauchten die Zuhörer ein in die Lebenswege der Menschen, die Unerhörtes, Absurdes, Grausames erlebt und erlitten hatten, so undenkbar, dass es unwirklich scheint.
Wären da nicht die Überlebenden. Die Schüler haben sie und Angehörige getroffen, mit ihnen gesprochen. „Das hat sie sehr berührt“, sagt Gedenkstättenleiterin Ines Reich. Zur Vorbereitung des außerunterrichtlichen Projekts nahmen die Schüler an einer Führung durch das Haus, das Gefängnis, teil. Einige von ihnen haben hier, nur wenige Häuser weiter, die Evangelische Grundschule besucht, ihre „Ahnungen von etwas Schrecklichem und unbeantwortete Fragen an die Eltern“ ließen sie in das Skript für die Lesung einfließen.
Zusammen mit den Aufzeichnungen der Häftlinge, drei Männer und zwei Frauen, entstand schließlich ein szenisches Textbuch. Dann kamen die Proben. „Man liest die Texte wieder und wieder und – ja – man stumpft in gewisser Weise ab. Aber ich hab doch immer wieder Gänsehaut“, sagt Hannes Lefherz auf die Frage, wie er die direkte Konfrontation mit dem Stoff erlebt.
Dass Projektleiterin Gela Eichhorn Theaterpädagogin ist, verleiht dem Abend eine ganz besondere Würdigung. Hier geht es eben nicht nur um Geschichtsvermittlung. Vielleicht ist es gerade deshalb zum Aushalten. Es ist gut, dass die Bilder der fünf schönen Menschen, die ein Projektor zu Anfang an die Wand wirft, mit dem Moment ihrer Einlieferung in die Leistikowstraße ausgeblendet werden. Es bleiben die Schatten der Köpfe der fünf Vorleser – ob nun gewollt oder ein Zufall, es ist dramaturgisch unglaublich stark.
Die jungen Menschen waren Anfang der 1950er Jahre völlig grundlos vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und monatelang im Gefängnis festgehalten, verhört und gefoltert worden. Den Bruchstücken ihrer Erinnerungen an diese Zeit, exzellent gelesen von den Schülern, steht trotzig real das graue Mauerwerk des Gefängnisbaus gegenüber, keine fünfzehn Meter weit über den Hof. Die Gäste der Lesung dürfen sitzen, in den Taschen sieht man Trinkflaschen und Schokoriegel, und wer will, dem steht es frei zu gehen.
Vor 60 Jahren knallten hier Türen, gab es für die hochschwangere Helga Gäbel keinen Stuhl beim Verhör. An diesem Abend gibt es wunderbare Musik von Jaspar Libuda, der – nur mit seinem Kontrabass – eine zauberhaft tröstende Materie schafft. Damals wurden die Häftlinge in den Einzelzellen verrückt vor lauter Einsamkeit und freuten sich über jede Fliege, die sich zu ihnen verirrte. Nach Monaten dieser Tortur, oft ohne Freigang, unterschrieben sie jedes Geständnis und ergaben sich in ihre Schicksale, die meist jahrelange Zwangsarbeit in russischen Arbeitslagern bedeutete.
„Die waren damals so alt wie ich jetzt, da macht man sich schon manchmal Gedanken“, sagt Hannes Lefherz. Dann drückt er die Kippe aus und geht noch mal zurück in den Saal. Dort sitzt der Potsdamer Peter Seele, auch ein ehemaliger Häftling, in einem improvisierten Stuhlkreis, um ihn herum lauter junge Leute. Jetzt ist Zeit für seine Geschichte. Erzählen tut ihm gut.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: