Landeshauptstadt: Zur Stasi ein DDR-Nein
Der Politologe Helmut Müller-Enbergs referierte in der Lindenstraße 54 über „Informelle Mitarbeiter“ Politologe Helmut Müller-Enbergs: „IM empfinden kein Fehlverhalten.“
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Seine Aussagen sind starker Tobak. Aber der Mann weiß, wovon er spricht. Der Politologie-Professor Helmut Müller-Enbergs hat wie kein zweiter die „Informellen Mitarbeiter“ (IM) der DDR-Staatssicherheit erforscht. 20 Jahre lang, weil’s niemand anderes machen wollte, wie er sagt. Herausgekommen ist ein wissenschaftlicher Durchdringungsgrad der Materie, mit dem Müller-Enbergs die rund 200 Zuhörer seiner Vortrags am Donnerstagabend in der Gedenkstätte Ehemaliges Stasi-Untersuchungsgefängnis Lindenstraße 54 erstaunte, begeisterte – und zuweilen auch ängstigte.
Zum Zeitpunkt der Wende hatte die Stasi 91 000 hauptamtliche und 189 000 informelle Mitarbeiter, erklärte Müller-Enbergs. Zur Frage, wo die alle nach der Wiedervereinigung geblieben sind, stellt der Politologe dem Land Brandenburg ein schlechtes Zeugnis aus: „Brandenburg ist das gelobte Land dieser Zunft.“ Vier bis sechs Prozent der Mitarbeiter in den DDR-Ministerien seien Stasi-Zuträger gewesen. Diese Quote, so Müller-Enbergs, „liegt heute in manchen Ministerien höher“. In Brandenburg hätten nur ein Drittel der ehemaligen Stasi-IM Konsequenzen ziehen müssen; in anderen Ländern wie Thüringen seien es 50 Prozent gewesen. Unter den 13 000 Führungsoffizieren, die die IM rekrutiert und angeleitet haben, seien 1989 etwa 40 Prozent unter 30 Jahre alt und mit einem anerkannten juristischen oder psychologischen Hochschulabschluss ausgestattet gewesen. Sie bildeten heute das „Rückgrat des Mittelstandes“, so Müller-Enbergs.
Als positives Zeichen der Stasi-Aufarbeitung sieht der Wissenschaftler der Stasi-Unterlagenbehörde, dass sich die Zahl der ehemaligen IM im brandenburgischen Landtag von zunächst „jeder Vierte“ der Abgeordneten auf heute nur sechs Abgeordnete verringerte. In diesem Zusammenhang lobte Müller-Enbergs die Einsichtsfähigkeit des einstigen Landtagsabgeordneten Michael Schumann – 2000 bei einem Verkehrsunfall getötet – der ihm gegenüber seine Schuld eingestanden habe mit den Worten: „Man kann es wenden wie man will, man hat Vertrauen missbraucht.“
Doch Müller-Enbergs ist weniger ein Stasi-Jäger als ein Stasi-Versteher. Er erzählt, mit welchen Methoden es gelang, Leute zur Mitarbeit zu gewinnen, die es eigentlich gar nicht wollten. „Ja, richtige Erpressung gab es.“ Angewendet wurde „ein Kompromat“, ein kompromittierendes Ereignis, wobei es sich selten um Frauengeschichten handelte sondern beispielsweise um Diebstahl am Arbeitsplatz. Häufig konstruierten die Stasi-Leute eine Konstellation, die den Beworbenen glauben ließ, er würde „Schaden abwenden“ oder „etwas Gutes tun“. Viele glaubten das bis heute: „IM empfinden kein Fehlverhalten.“
Ferner sieht Müller-Enbergs die besondere Situation derer, die „Nein“ sagten zur Anwerbung. Von drei durch die Stasi angeworbenen DDR-Bürgern habe nur einer „Ja“ gesagt. Müller-Enbergs: „Die, die ,Nein’ sagten, wussten nicht, was passiert.“ Viele hätten mit einem „DDR-Nein“ geantwortet: „Ich würde ja gern, aber es gibt objektive Hinderungsgründe.“ In einer spezifischen Situation befanden sich Häftlinge oder Soldaten. „Jeder fünfte Häftling in der Lindenstraße 54 hat als Zellen-Informant gearbeitet“, erklärte der Politologe. In dieser Situation „Nein“ zu sagen, sei nicht einfach gewesen. Es sei zu fragen: „Wie frei war jemand, ,Nein’ zu sagen?“ Das gelte auch für die Armee, wo der Freiheitsraum durch die geforderte 80-prozentige Präsens aller Soldaten in der Kaserne eingeschränkt war. 23 000 IM unterhielt die Stasi in der NVA, „einer in jeder Stube“.
Zum Schluss erheiterte Müller-Enbergs das Publikum mit Zitaten aus Spitzelberichten. Offen bleibt, ob dahinter Dummheit stand – oder die Schlauheit, mit vielen Worten nichts zu sagen respektive zu verraten. Ein IM schrieb seinem Führungsoffizier: „Ob die Tür offen war, kann ich nicht sagen, aber zu war sie auf keinen Fall.“ Guido Berg
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