Landeshauptstadt: Zustände wie im Irrenhaus
Teilnehmer der Runden Tische sprachen in der Gedenkstätte Lindenstraße über die Wendezeit. Mit dabei waren auch Grit Poppe und Konrad Weiß
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Es ging um Müllentsorgung, Wasser oder Strom. Um Alltagssorgen eben. Im Winter 1989/90 saßen auch in Potsdam die Noch-Machthaber des angeschlagenen DDR-Regimes und Oppositionelle zusammen. Die großen politischen Entscheidungen wurden am Zentralen Tisch getroffen, aber auch die regionalen Runden Tische trugen dazu bei, dass die Friedliche Revolution friedlich blieb. Am Donnerstagabend berichteten in der Gedenkstätte Lindenstraße Teilnehmer der runden Tische von ihren Erfahrungen.
„Es war ein großes Experiment“, sagte etwa Grit Poppe in einer kurzen Rede. Sie hatte für die Bürgerinitiative „Demokratie jetzt“ (DJ) an den Debatten am Runden Tisch des Bezirks Potsdam teilgenommen. Der Tisch hatte sich erst am 20. Dezember 1989 konstituiert, mehr als einen Monat nach dem Mauerfall am 9. November. Fast täglich fanden Demonstrationen statt, an denen auch Poppe, damals 25, teilnahm. „An eine Wiedervereinigung dachten wir nicht“, fügte sie hinzu.
Auf der einen Seite hätten die Bürgerinitiativen gesessen, in der Mitte die Kirchen, auf der anderen die Vertreter der SED, die sich da bereits PDS nannte. „Das waren die Apparatschik des alten Systems.“ Angst habe sie irgendwann nicht mehr gehabt. Da war die DDR wohl schon zu schwach geworden.
Warum sprachen die Bürger überhaupt mit dem verhassten System, warum setzten sie das Regime nicht einfach ab? Diese Frage zog sich durch den gesamten Abend, an dem neben Poppe auch der Filmregisseur Konrad Weiß, die Journalistin Ute Samtleben und der damalige Vertreter des Kulturbundes am Potsdamer Runden Tisch, Hans-Joachim Schreckenbach, teilnahmen. Die Bürger hätten keine Erfahrungen gehabt, wie ein Staat zu lenken sei. „Wir sprangen in den Diskussionen von einem Thema zum nächsten“, sagte Poppe. Und dann habe die Geschichte sie überrollt. Die Menschen hätten die blühenden Landschaften gewollt, die Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) versprach.
Weiß, der damals am Zentralen Runden Tisch für „Demokratie Jetzt“ saß und unter anderem mit dem damaligen DDR-Regierungschef Hans Modrow (SED/PDS) über Reformen stritt, stimmte ihr zu. „Wir wussten nichts mit Macht anzufangen“, sagte er. Im Januar 1990 habe es eine Gelegenheit gegeben, die Machthaber verhaften zu lassen. „Wenn wir den Mut gehabt hätten. Aber das hätte nicht wirklich etwas gebracht.“
Schreckenbach nannte die Debatten „chaotisch“. Oft habe es unrealistische Anträge gegeben. Alle Teilnehmer hätten erst lernen müssen zu diskutieren. Weiß sprach zudem von einer großen Euphorie. „Alles schien möglich. Wir haben es geschafft, die Atomkraftwerke abzuschalten. 20 Jahre vor Merkel“, fügte er hinzu.
Die friedliche Revolution im Konsens sei das Ziel gewesen, sagte Samtleben, die über den Rat der Volkskontrolle der Stadt Potsdam berichtete. „Es ging uns nicht um Bananen oder Reisen. Es ging uns um die geistige Enge des Systems“, fügte sie hinzu. Und der Alltag habe organisiert werden müssen. Die Fachkräfte seien massenhaft in den Westen gegangen. „Die Leute kamen nicht mehr zur Arbeit. Es ging zu wie im Irrenhaus.“
Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion waren sich schließlich einig, dass das „große Experiment“ trotz aller Schwierigkeiten funktionierte. „Dass es friedlich geblieben ist, darauf bin ich immer noch stolz“, sagte Samtleben. Weiß ging noch einen Schritt weiter. Es sei der Verdienst der Runden Tische gewesen, dass es friedlich geblieben sei, sagte er. Auch heute sollten in diesem Format innerstaatliche Konflikte moderiert werden. Möglicherweise wäre dies auch im Februar vergangenen Jahres nach der Maidan-Revolution in der Ukraine ein Weg gewesen. „Die Runden Tische waren das Scharnier von der Diktatur zur Demokratie“, fügte er hinzu. Stefan Engelbrecht
Stefan Engelbrecht
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