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Homepage: Zwang zum erfolgreichen Urlaub Jean-Claude Kaufmann sprach über Identität

Angenommen, Sie sind auf dem Weg zur Arbeit spät dran. Nun kommen Sie zu einer viel befahrenen Straße, die Sie überqueren müssen.

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Angenommen, Sie sind auf dem Weg zur Arbeit spät dran. Nun kommen Sie zu einer viel befahrenen Straße, die Sie überqueren müssen. Welche Möglichkeiten haben Sie? Man könnte wagemutig die Straße betreten. Zwischen bremsenden Autos sich den Weg bahnen, um atemlos in letzter Minute bei der Arbeit zu erscheinen. Dann ist man ein Held. Variante zwei: Man bleibt gelassen stehen, genießt die Sonne und wartet, bis die Fußgängerampel auf grün schaltet, um dann in aller Ruhe ihren Weg fortzusetzen. Die Arbeit ist nun wirklich nicht so wichtig, als dass es sich lohnen würde, ein Risiko dafür einzugehen. Und hinter der kleinkarierten Verärgerung der Kollegen über die Verspätung verbirgt sich wahrscheinlich nur Bewunderung. Eine Situation, zwei Möglichkeiten. Was wollen Sie tun, wer wollen Sie sein?

Das Leben ist voller Entscheidungen, sagt Jean-Claude Kaufmann. Der französische Soziologe, dessen Literaturliste sich schon unterhaltsam liest – von „Schmutzige Wäsche“ (dt. 1995) über „Singlefrau und Traumprinz“ (dt. 2002) und „Der Morgen danach“ (dt. 2004) bis zum im Herbst in Deutschland erscheinenden Buch „Kochende Leidenschaft“ – erläuterte unlängst im überfüllten Kleinen Physikhörsaal am Neuen Palais seine Überlegungen zur „Identität“. Immer wieder neu müssen wir unseren Weg, unsere Werte und damit auch: unsere Identität definieren, argumentierte Kaufmann, der an der Sorbonne lehrt. Seinen Vortrag baute er eher assoziativ auf und ließ dabei mitunter geradezu schauspielerische Qualitäten blicken.

Erst seit den 60er/70er Jahren, seien die Menschen gezwungen, ihre Lebensgeschichte zu „erfinden“. Aus der Vielfalt des Erlebten konstruieren sie ihre Identität. Dies geschehe nicht erst nach dem Erlebnis, sondern parallel dazu, wie im Beispiel des Zuspätkommers. Jeder kann und muss unaufhörlich Entscheidungen treffen. Und jede Entscheidung ist mit Bildern, Emotionen und Bewertungen geladen. Zusätzlichen Druck schaffe der „strukturelle Mangel an Anerkennung“ in der heutigen Gesellschaft. Die eigene Geschichte soll erfolgreich verkauft werden: Man müsse heute sogar erfolgreich Urlaub machen, um dann einen Bericht abliefern zu können.

Dem Dilemma werde in zweifacher Weise begegnet: Einerseits gibt es ein hohes Bedürfnis nach Information und kritischem Denken. Weil der Mensch aber mit der rationalen Erwägung aller ihn betreffenden Entscheidungen völlig überfordert wäre, bediene er sich andererseits dem „magischen Denken“. Mehr oder weniger willkürlich werden persönliche Wahrheiten festgelegt und geglaubt. Kaufmann illustriert das am Beispiel einer Frau, die sich nach eigener Einschätzung „natürlich“ ernährt. Mit Nachfragen deckt er „magische“ Sinnkonstrukte auf: Ein Huhn etwa kauft sie beim Händler extra am anderen Ende der Stadt, serviert dieses dann aber mit Konservengemüse, was wiederum nur aus dem Glas, nicht aus der Blechdose stammen darf. Der Glaube befreie uns von der Anstrengung, ständig Sinn schaffen zu müssen, sagt Kaufmann und liefert damit eine Erklärung für den Erfolg von Glaubensgemeinschaften und Sekten.

Dass diese Entwicklung aber tatsächlich erst seit den 60er Jahren stattfindet, machte Kaufmann nicht plausibel. Den Hinweis einer Zuhörerin, dass die simplifizierende Sichtweise auf die „traditionelle Welt“ vielleicht selbst nur eine Konstruktion sei, griff Kaufmann aus Zeitgründen nicht mehr auf. Jana Haase

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