Homepage: Zweite Hand statt Marken FH-Publikation über Identitätsbildung
Welche Gegenstände würde man retten, wenn die eigene Wohnung brennt? Diese Frage wurde für eine Potsdamer Designstudentin Realität, als in einer Sommernacht ihr Haus brannte.
Stand:
Welche Gegenstände würde man retten, wenn die eigene Wohnung brennt? Diese Frage wurde für eine Potsdamer Designstudentin Realität, als in einer Sommernacht ihr Haus brannte. Drei Tage später betrat sie die Wohnung wieder; ihr erster Gedanke ging jedoch nicht an ihre zahllosen Kleidungsstücke, sondern an die Bücher, von denen sie viele besaß – ihre Mutter war Bibliothekarin und hatte ihr beigebracht, dass man Bücher nicht wegwirft.
Diese Studentin gibt es wirklich, ihre Geschichte ist eines der 66 Porträts des Buches „Dinge, Räume und persönliche Identität“, das am Dienstag vom Herausgeber Rainer Funke – Dozent für Design-Theorie an der Fachhochschule Potsdam (FH) – vorgestellt wurde. 72 FH-Studenten aus den Bereichen Design, Architektur und Kulturarbeit hatten im letzten Wintersemester an dem interdisziplinären InterFlex-Projekt gearbeitet. Sie interviewten Freunde und Bekannte, wollten wissen, welche Rolle materielle Gegenstände für ihre Identitätsbildung spielen. Die anonymisierten Porträts beschreiben detailliert, welche Bedeutung etwa Erbstücke, Glücksbringer, Kleidungsstücke oder bestimmte Räume und Einrichtungsgegenstände für das Selbstbild der jeweiligen Personen besitzen.
Dass Menschen sich über materielle Besitztümer identifizierten, sei natürlich keine neue Erkenntnis, so Funke: „Aber wie das im Konkreten aussieht, wurde bislang kaum richtig dokumentiert.“ Das Buch sei eine empirische Studie und enthalte kein wirkliches Fazit, sagt Funke, da auch die geschilderten Personen zu unterschiedlich seien. „Es geht darum, die Vielfalt dieser meist unterbewussten Identitätsbildungs-Prozesse aufzuzeigen. Der Erkenntnisgewinn liegt eigentlich im Banalen.“
Eines der Porträts erzählt von einer jungen Türkin: Sie schmeißt Überflüssiges meist weg, gewisse Dinge jedoch nicht, zum Beispiel den Koran, den ihr Vater ihr geschenkt hat, obwohl sie nicht sehr religiös ist, oder einen alten schwarzen Rock, den sie von ihrem ersten selbstverdienten Geld gekauft hat und mit dem sie Stolz und Selbstständigkeit verbindet.
Der Design-Student Kiran Nelgen hingegen erzählt von seinem Mitbewohner, der vor allem Kleidung aus Zweiter Hand trägt, da er nichts von Großkonzernen kaufen wolle: „Darunter ist oft auch Damenkleidung, zum Beispiel bestimmte Westen oder Pullover, die er allerdings nicht als Gender-Statement trägt.“ Ein Teil seiner Selbstinszenierung sei zudem das Kochen: Seine Küche hat der Student selbst entworfen und gebaut.
Die Designstudentin Isabel Latza hat ihre eingangs erwähnte Freundin porträtiert: „Wenn du bist, was du hast, wer bist du dann, wenn du nichts mehr hast?“, fragt sie im Text. Für die Studentin sei der Brand letztlich eine Art Befreiung gewesen; ihre Wohnung war schön, aber bedrückend, voller Kleidung und Blumentapeten. Danach hat sie viele der verbliebenen Möbel weiß gestrichen – die Veränderung der Identität zeigt sich auch in den eigenen Besitztümern. „Jeder gute Designer sollte zu einem Stückweit auch Psychologe sein“, so Latzas persönliches Fazit. Erik Wenk
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: