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Gemeinsames Singen: Zwischen Beat und Beethoven

In der Nagelkreuzkapelle singen Potsdamer und Flüchtlinge gemeinsam. Das klappt auch ohne Sprachkenntnisse gut.

Stand:

Was er gerade hört? Ali Muhammadi nimmt seine Kopfhörer aus den Ohren, reicht sie herüber und stellt dann am Telefon etwas ein. Pakistanische Musik erklingt, eine traurige Männerstimme. „Sad songs“, sagt er – traurige Lieder. Dann zeigt er auf sich selbst: „Because I am sad, very sad. I am here without my parents.“ Er sei traurig, sehr traurig, denn er ist ohne seine Eltern hier.

Der 17-Jährige steht etwas verloren am Mittwochabend in der Nagelkreuzkapelle, die sich langsam füllt, mit anderen Flüchtlingen, alle junge Männer wie Ali Muhammadi, und mit Potsdamern. Mitten drin steht Andreas Flämig, der gleich mit der bunten Truppe singen möchte. „Do you like singing?“, stand in fetten Buchstaben auf den Handzetteln, die er und andere Helfer seit zwei Wochen in der Erstaufnahme in der Heinrich-Mann-Allee verteilte. Auch auf Deutsch, Arabisch und Urdu. Damit möglichst viele sich angesprochen fühlen und zum ersten Termin der neuen Aktion – gemeinsames Singen von Potsdamern und Flüchtlingen – kommen würden. Regelmäßig soll das jetzt stattfinden, immer am ersten Mittwoch des Monats um 17 Uhr. Die Idee dazu hatte Andreas Flämig, der ehrenamtlich für die Fördergesellschaft für den Wiederaufbau der Garnisonkirche arbeitet und auch den Chor Cantamus, einen Hobbychor für Sänger 60 plus, leitet. Die Cantamus-Sänger waren begeistert von der Idee, etwas mit Flüchtlingen zu machen. Und sind am Mittwochabend fast vollständig vertreten.

Aus dem Heim kommen knapp 15 junge Männer. Flämig ist überwältigt. „Wir hätten auch mit zweien gesungen“, sagt er. Die Helfer haben die Sänger im Heim abgeholt, sind mit ihnen Tram gefahren ins Stadtzentrum. „Es geht nur so, über den persönlichen Kontakt“, sagt Jochen Pfeiffer. Der kennt die meisten schon, weil er ehrenamtlich beim Deutschunterricht im Heim hilft. „Mein Sprachkurs“, sagt er stolz, umringt von einer Handvoll Männer. Die haben sich schon alle auf einer Tafel eingetragen, mit Namen und Herkunftsland. Sie kommen aus Pakistan, Afghanistan, Kamerun, sprechen nur ein paar Brocken Englisch oder Deutsch und sind erst seit ein oder zwei Monaten hier in Potsdam.

Jetzt sollen sie hier singen – wie soll das gehen, ohne Sprachkenntnisse? Das hatte sich auch Andreas Flämig gefragt. Und sich lange Gedanken gemacht, wie er den Abend gestalten würde. „Wir fahren heute eine ganz einfache Strecke“, sagt der Lehrer für Deutsch und Musik, der zuletzt am Evangelischen Gymnasium auf Hermannswerder arbeitete und seit 2008 im Ruhestand ist.

Ein bisschen nervös ist er trotzdem. Dann geht es los. „Ich heiße Andreas, I am Andreas, und wir machen Call – Response“, sagt er und zeigt auf sich selbst und die Sänger. Was er vormacht, machen sie nach. Verschiedene Rhythmen klatschen, dazu braucht es keine Worte, das versteht jeder. Dann kommt Fußstampfen dazu, dann Silben mit Melodie, Duda und Dubidubidu. Die einfachen Bausteine werden anschließend zu einem Kanon zusammengesetzt und schon ist es Musik.

Die Gesichter der Jungs werden gelöst und entspannt, längst hat Ali Muhammadi seine Kopfhörer ausgestöpselt und ist ganz dabei. Sie konzentrieren sich auf den Mann da vorn, der so komische Sachen vormacht, Handzeichen und Dirigieren. Sie lachen, wenn sie sich verklatschen und versingen, aber das passiert auch den Cantamus-Sängern, die zwischen den Neuen sitzen. Dann kommt „was Afrikanisches“, sagt Flämig und übersetzt die fremden Silben. „Liebes kleines Mädchen, du sollst nicht weinen.“ Zuletzt wagt er sich tatsächlich an Beethovens „Ode an die Freude“ die meisten summen nur mit, eine kleine Gruppe singt Text. „Alle Menschen werden Brüder“, das hat Symbolkraft für die Cantamus-Sänger, die jungen Flüchtlinge sind im klassischen Kulturerbe doch etwas verloren. Aber schön ist es trotzdem. Und es ist vermutlich lange her, dass sich jemand bei ihnen bedankt so wie Flämig, der sich nach 45 Minuten mit einem herzlichen „Thank You“ von ihnen verabschiedet. Sie wollen wiederkommen, sagen sie alle, während sie noch einen Tee trinken.

Wieland Eschenburg aus dem Vorstand der Stiftung Garnisonkirche hat auch mitgesungen. Und hofft, dass beim nächsten Mal noch mehr kommen. Auch Potsdamer, wie die junge Frau, die ihm sagte, sie wäre noch nie in der Kapelle gewesen und hätte noch nie was mit Flüchtlingen zu tun gehabt. „Für sie waren das zwei neue, wichtige Schritte“, sagt Eschenburg. Auch für die Stiftung sei solches Engagement wichtig. „Wir wollen zeigen, dass wir hier nicht nur Steine sammeln“, sagt Eschenburg.

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