Kultur: „... es ist noch Suppe da!“
„Im Garten vorgelesen“ bei Anne und Lutz Andres
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„Im Garten vorgelesen“ bei Anne und Lutz Andres Ziegen scheinen besondere Objekte der Literatur zu sein. Die Märchen „Tischlein deck dich!“ und jenem von Ein-, Zwei- und Dreiäuglein weisen ihnen eine wahrhaft nährende Rolle zu. Auch der sowjetische Humorist und Satiriker Michail Sostschenko (1895-1958) hat eine solche verewigt. Zusammen mit anderen Texten war die gleichnamige Geschichte vom Kanzleibeamten Sabeshkin und der Ziege Mascha auf dem schier uferlosen Anwesen des Musikerehepaares Anne und Lutz Andres in der Alexandrowka zu hören. Weil die Urania als Veranstalter der Reihe „Im Garten vorgelesen“ zuletzt vor fünf Jahren hier „tagte“, ging diese bereits im Frühjahr angebotene Lesung auch als erste „weg“. Das Ambiente stimmte astral wie irdisch: Schon vor dem Tore durfte man bereit gestelltes Obst greifen, unter demselben begrüßte Anne Andres und ihre russische Nachbarin (in Nationaltracht) ein wieder auf etwa 150 Köpfe gezähltes Publikum. Ein warmer, runder Mond stand oben. Das über 7000 Quadratmeter große Gelände, etwa zu einem Fünftel als Obst-, Gemüse- und Blumengarten angelegt, ist gepflegt, aber nicht in Zierart, üppig, doch nicht wild, wer hier den Rasen mäht, ist nicht zu beneiden. Hinterm Haus bot die Gastronomie vom Restaurant schräg gegenüber Russisches an: Borschtsch und Piroschki, Wein und Birkenwasser, Kwas und „Shustov“, ein Magenbitter, als „echt russischer Balsam“ deklariert; sogar Stalins Lieblingswein war dabei, nur hatte man auf die Original-Etiketten mit seinem Porträt tunlichst verzichtet. Wahrlich, ein tafelgleiches „Tischlein-deck-dich“! Die Gastgeber sangen vorab ein russisches Ständchen zur Gitarre, indes Tatjana Tschynko auf ihrem Akkordeon die weitere musikalische Begleitung übernahm. Hans-Jochen Röhrig war der temperamentvolle Vorleser frühsowjetischer Satire-Kultur, nicht so souverän wie gewohnt. Sostschenkow, Sohn eines Malers, studierte Jura, trat 1918 freiwillig in die Rote Armee ein, bekam aber trotzdem Probleme mit dem Schnurrbart-Diktator vom Kaukasus. Nach der Demobilisierung arbeitete er als Kriminalpolizist, Geflügelzüchter, Telefonist und Schuhmacher. Seit 1921 veröffentlichte er Geschichten, gehörte zu den literarischen „Serapionsbrüdern“, wurde später von einer psychischen Krankheit befallen, deren Selbstheilung er in „Schlüssel des Glücks“ ausführlich beschreibt. Leider war davon gar nichts zu hören. „Die Ziege“ ist vielleicht nicht seine beste Erzählung. Sostschenkow beschreibt darin mit Augenzwinkern, wie der ohnehin von Entlassungssorgen geplagte Sabeshkin dem Irrtum erlag, mit der matronenhaften Zimmervermieterin Domna Pawlowna auch Mascha unter die Haube zu kriegen. Doch gefehlt, das Hornvieh gehört gar nicht ihr, sondern seinem Nebenbuhler, dem Telegrafisten Iwan, der das Rennen dann macht. Der Beamte wird entlassen, verarmt, isst von den Brosamen am Tische des Paares. Dieser umständlich und lang erzählte Text beanspruchte fast eine Stunde. Nach der Pause, als Lichter die Wege und den alten Walnussbaum erleuchteten, Gäste Wein schlürften und Suppe löffelten, kamen kurze Satiren wie „Der Elektriker“ oder die kriminelle Spürgeschichte „Hundenase“ zu Gehör, witzig auf den Punkt gebracht, besser zur Atmosphäre passend. In die Schlusssätze drang das Prasseln eines Gartenfeuers. Zugabe, Dank und Blumen für Gastgeber und Ausführende, und wer nicht gleich gehen wollte, für den blieb das Tischchen gedeckt: „Es ist noch Suppe da!“ hörte man vom „Cuttering“ her rufen. Es gab also kaum etwas zu meckern. Gerold Paul Letzte Gartenlesung des Jahres am 2. September in Kartzow, Inf. 0331/291741
Gerold Paul
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