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Kultur: „... mein Herz ist weit, ist anderswo“

Literarische Archäologin: Ines Geipel stellte zum Festival der Frauen Autorinnen vor, die in der DDR unveröffentlicht blieben

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Die Blätter vergilben. Mit der Zeit bricht die Struktur des Papiers. Es zerfällt, und mit ihm die darauf verfassten Gedanken. 70 000 solcher Blätter, Manuskripte, Briefe, Verse, Notizen, lagern in einem Archiv, das die Schriftsteller Ines Geipel und Joachim Walther aus unveröffentlichten Texten einer in der DDR unterdrückten Literatur zusammengetragen haben. Gegen den Zerfall, dem das Vergessen folgt, haben die beiden Autoren begonnen, das Material zu sichten und in der „Verschwiegenen Bibliothek“ der Büchergilde Gutenberg zu veröffentlichen. Gerade ist Band 7 erschienen, die „Kolberger Hefte“, literarische Tagebücher des märkischen Dichters Henryk Bereska. Ein Buch, das Ines Geipel am Mittwoch im Literaturladen Wist ihren Zuhörern gleich zu Beginn ihrer Lesung ans Herz legte. Geistreich, voller Esprit und Poesie seien die Texte.

Was dann folgte, griff an die Substanz. Die Autorin war vom einladenden Frauenkulturzentrum „primaDonna“ gebeten worden, an diesem Abend vor allem den weiblichen Stimmen der „Verschwiegenen Bibliothek“ Gehör zu verschaffen. Sie tat es mit einem Gedicht der 1930 geborenen Edeltraud Eckert, die als Studentin wegen einer Flugblattaktion zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt wurde: „... dass ich lebe, dass ich bin / mein Herz ist weit, ist anderswo“, schrieb sie in der Haft. Mitleidlos mit sich selbst verdichtete sie ihr Sehnen zu Versen, die, immer wieder memoriert, eine Melodie entwickelten und dann auch tatsächlich von Mithäftlingen gesungen wurden. Ines Geipel liest die Texte als „große Exposition zu einem schriftstellerischen Werk, das es nicht gegeben hat“. Fünfundzwanzigjährig starb Edeltraud Eckert an den Folgen eines Arbeitsunfalls.

Als die 1953 geborene Gabriele Stötzer mehr als zwei Jahrzehnte später im selben Gefängnis einsaß, hörte sie, dass es hier einmal eine Gefangene gab, die Gedichte schrieb. Ein gangbarer Weg, wenn der Raum begrenzt ist. Die Gedanken ordnen. Genau festhalten, was außen und was im Innern geschieht. Akribisch notierte Gabriele Stötzer ihre Hafterfahrungen, die sie später in „Die bröckelnde Festung“ veröffentlichte.

Ines Geipel, die, einer literarischen Archäologin gleich, verschüttetes Material aus Archiven und Nachlässen ans Licht holte, forschte in Künstlerkreisen, was aus jenen Autoren wurde, die nach Veröffentlichungen in jungen Jahren keine weiteren literarischen Spuren hinterlassen hatten. Dabei stieß sie auf immer neue Schicksale von Dichtern, die „in dem Moment, da sie versuchten, ihre künstlerische Substanz zu verteidigen, schwere Brüche erfuhren“. Oftmals, so die Autorin, spürt man dies selbst in der Sprache, etwa in den Texten der 1935 geborenen Jutta Petzold. Nach missglückter Flucht und Psychiatrieaufenthalten schien ihre Kreativität wie lahm gelegt. „Dabei wollte sie mit ihren Texten aufpeitschen zu einem konzentrierten Leben“, so Ines Geipel. In „Die Gauklerin“ beschrieb Jutta Petzold die von ihr empfundene Alternative, sich für die sichere, aber fade oder die leidenschaftliche, aber tragische Seite des Lebens entscheiden zu müssen, wissend, dass der Mensch an zu viel Dramatik zu Grunde gehen kann.

Seit der Herausgabe der „Verschwiegenen Bibliothek“ erscheint Ines Geipel die ostdeutsche Literatur „farbiger, auch trauriger, in jedem Fall aber extremer, als wir sie bisher gelesen haben“. Diese in ihrer Vielfalt sehr verschiedenen Stimmen mehr zur Kenntnis zu nehmen, würde die Bedeutung bekannter DDR-Autoren nicht schmälern, glaubt sie. Es würde einfach den Blick auf die in jener Zeit entstandene Literatur weiten und vielleicht einen neuen, auch wissenschaftlichen Diskurs darüber in Gang setzen. Antje Horn-Conrad

Antje Horn-Conrad

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